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Frankfurter Buchmesse: Elektrisches Feld

Peter Henning erzählt in dem Roman „Die Ängstlichen“ mit grausamer Präzision eine Geschichte über die Ambivalenz von Familien: über das Leiden einerseits und den Wunsch nach Aufgehobensein andererseits.

Die Familie als der letzte, indes unheilvolle Überbau des modernen Menschen, der sich doch aller großen philosophischen und religiösen Erzählungen entledigt zu haben meinte, hat die Literatur des 20. Jahrhunderts stets umgetrieben. Wenn Peter Henning in seinem Roman „Die Ängstlichen“ diese Geschichte über die Ambivalenz von familiären Zusammenhängen, über das Leiden an und den Wunsch nach Aufgehobensein in ihrer Verstrickung, noch einmal neu schreibt, dann tut er das mit einer kühlen Präzision, der etwas Grausames anhaftet. Gnadenlos gelassen entrollt er in den nebeneinander geschnittenen Passagen seines Romans wenige Tage aus dem Leben der Familie Jansen wie ein Spielfeld, dessen Akteure unweigerlich miteinander und mit ihrem Schicksal verknüpft sind.

Die Jansens, die in und um das hessische Provinzstädtchen Hanau leben, seien in ein „gigantisches elektrisches Feld“ geraten, so dass es „nur noch eine Frage von Tagen, ja möglicherweise Stunden war, bis es zur alles erschütternden Entladung kam“. An dieser Stelle, etwa in der Mitte des 500 Seiten langen Romans, ist das eine Information, der es nicht mehr bedurft hätte. Denn Henning, der seiner Kühle eine überdeutliche symbolische Überhöhung an die Seite stellt, lässt seinem Roman bereits mit einem Unwetter beginnen. Mit quasi mythologischer Unbedingtheit scheint das vermeintliche Katastrophische den Geschehnissen von Beginn an eingeschrieben. Das Perfide: Im Grunde sind es nicht viel mehr als die gewöhnlichen Verknorkelungen und alltäglichen Unbill, die den Figuren eine gefühlt höllische Existenz bereiten, von denen sie sich aber auch nicht befreien können.

Alles befindet sich in Auflösung

Im Epizentrum des familiären Unwetters steht Johanna, Familienoberhaupt, die ihrem körperlichen und geistigen Verfall Rechnung tragen will und sich in einem Altenstift eingemietet hat. Während sie die Vorbereitungen für eine Familienzusammenkunft trifft, um ihren Kindern und Enkeln mitzuteilen, dass sie die gemeinsamen Heimstätte aufgeben will, befindet sich um sie herum längst alles in Auflösung. Nachdem der an Schizophrenie erkrankte Sohn Konrad gerade aus einer Klinik geflohen ist, kommt der zweite Sohn Helmut, ehemaliger Golflehrer, der nach seiner Scheidung den Großteil des Tages Sportsendungen schaut und sich hin und wieder eine nicht mehr ganz taufrische Damenbekanntschaft mit nach Hause bringt, mit blutigem Urin und dem Verdacht auf Blasenkrebs ins Krankenhaus. Ulrike, Schwester der beiden, die sich einer Karriere als Gattin eines erfolgreichen Geschäftsmanns verschrieben hat, sieht derweil ihre Existenz aus den Fugen geraten, als sie in der Hosentasche ihres Mannes ein Kondom und damit das Zeichen eines Ehebruchs findet. Schließlich gibt es noch Johannas Enkel Ben, der sich als Sportjournalist durchschlägt und von Panikattacken heimgesucht wird, die nicht nur sein Schreiben blockieren, sondern auf die sein Körper mit aufplatzenden Pusteln und Ekzemen antwortet.

Während sie alle, die Ängstlichen eben, aus einer diffusen Furcht in ihren muffigen, beklemmenden Lebenszusammenhängen ausharren, ist der eigentliche Witz an der Geschichte: Einen gibt es, der allen Grund hätte, ängstlich zu sein. Janek, der polnische Lebensgefährte von Johanna, der Spiel- und Pferdewettschulden hat und in einem Stundenhotel vor seinen mafiösen Geldeintreibern untergetaucht ist. Dieser Hasardeur aber ist der Einzige in diesem Figurenensemble, der statt Angst Lust an seinen Verstrickungen empfindet, und er ist auch die einzige Figur, die so etwas wie Wärme abstrahlt.

Sinnlichkeit oder Gefühl gibt es nur sehr bedingt

Das liegt nicht nur an der Verzagtheit der übrigen. Es liegt vor allem an Henning, der seine Figuren auf eine vegetative Ebene und den analytischen Blick hinunterbricht. „Johanna kamen die Tränen, sie liefen ihr über die faltigen, leicht pelzigen Wangen, wenige Millimeter große, aus Enzymen, Antikörpern und Eiweißstoffen zusammengesetzte Gebilde“. Passagen wie diese setzt Henning fast über Gebühr deutlich und häufig ein.

Sinnlichkeit oder Gefühl gibt es bei Henning dagegen nur sehr bedingt. Vermutlich macht das das Grausame aus, das in seinem Erzählen mitschwingt, weil es die Verlorenheit und das gleichzeitige Gefangensein des Menschen so unanfechtbar werden lässt. Zugleich – oder gerade deshalb – aber haftet dem Roman trotz aller körperlichen Aus- und Abscheidungen etwas befremdlich Aseptisches an. „Sie schaltete das Licht in der Küche ein“, heißt es über Johanna, „worauf augenblicklich alle Resthelligkeit draußen im Garten hinter den nassen Fensterschreiben zurückwich.“ Diese Bewegung des Lichts beschreibt recht gut Hennings poetologisches Prinzip: Er leuchtet den erzählten Vordergrund so mikroskopisch genau aus, dass der Blick in die Tiefe verwehrt bleibt. Das mag gewollt sein und bisweilen glänzen, ist aber am Ende nicht viel mehr als ein schöner Überbau.

- Peter Henning: Die Ängstlichen. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2009, 496 S., 22,95 €.

Wiebke Porombka

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