zum Hauptinhalt
304714_0_6e0a6ada.jpg

© AFP

Gao Xingjian: Keine Orte, nur noch Worte

Zur Buchmesse hat man ihn nicht eingeladen, kommen wird er trotzdem: Gao Xingjian, Nobelpreisträger im Exil, chinesischer Franzose, französischer Chinese. China hat er aus seiner Erinnerung verbannt – nur in seinen Büchern lebt es noch.

In der engen Straße, in der Chinas erster und einziger Literaturnobelpreisträger wohnt, reiht sich ein japanisches Restaurant ans andere. Es ist elf Uhr vormittags, in den Suppenküchen bereiten sie sich auf den Ansturm der Mittagszeit vor. Es regnet in Strömen. Ein älterer schwarzer Mann mit nacktem Oberkörper saugt vor einer schmuddeligen Bar die Kippen auf, die längst entschwundene Gäste nachts auf dem Fußabtreter ausgedrückt haben.

Rue Saint-Anne, zweites Arrondissement, Paris. Hier lebt Gao Xingjian, der Mann, den sie in China als „französischen Schriftsteller“ bezeichnen – und der in Frankreich immer noch als Chinese gilt. Zu Fuß ist man von hier aus in ein paar Minuten an der Oper, in den Gärten des Palais Royal oder auf der Place de la Concorde, auch der Louvre ist nicht weit. Gao lebt mittendrin, aber zwischen den Welten. Er fühlt sich als Franzose, als Europäer, in Wahrheit ist er alles zugleich: chinesischer Franzose, französischer Chinese; Schriftsteller und Maler, Regisseur und Dramaturg, Essayist, Filmemacher, Opernkomponist, jemand, der in keine Schublade passt.

Gao öffnet die Tür, lächelt leise, schüttelt die Hand, ohne Druck, als scheue er die Berührung, und bittet herein. Die Wände seiner Fünf-Zimmer-Wohnung sind allesamt weiß. An einer Wand ist eine breite Platte aus Plexiglas befestigt, darauf bringt Gao seine Tuschmalereien an, um sie in Ruhe zu betrachten. Als wolle er die Kunst außerhalb seines Ateliers in der Wirklichkeit testen.

Es ist die Wohnung eines Exilanten, eines Mannes, der sich mit Gepäck nicht belastet. Oft ist Gao in den letzten 20 Jahren umgezogen, in und um Paris herum. Mit dem Geld des Literaturnobelpreises hat er sich die Wohnung gekauft, hat sich endlich niedergelassen, neun Jahre ist das jetzt her. Damals, sagt er lachend, habe es in der Rue Saint-Anne nur ein einziges japanisches Restaurant gegeben.

Als ihn die Nachricht am 12. Oktober 2000 erreichte, kam sie aus heiterem Himmel. Wie ein Regenguss, auf den er nicht eingestellt war. Gao war ein eher unbekannter Schriftsteller, seine Bücher lagen nicht einmal in deutscher Übersetzung vor, er lebte von seiner Malerei. Plötzlich stand die Weltpresse vor der Tür. Journalisten belagerten sein Haus, damals noch in Bagnolet, einem Pariser Vorort. In den Zeitungen hieß es, der Literaturnobelpreisträger lebe in einem Sozialbau. Dabei stimmte das gar nicht, wie Gao schnell richtigstellte, es war nur ein Hochhaus in der Vorstadt, mit einem schönen Ausblick auf Paris.

Im Raum nebenan hängt kein einziges Regal, es gibt keine Bücher, nur ein paar Bildbände über Gaos Tuschmalerei und seinen Film „Silhouette/Shadow“. Abgesehen von zwei eigenen Bildern an den Wänden kaum persönliche Spuren. Ein kleiner CD-Turm bezeugt, welche Musik er gerne hört, Bach vor allem. Die Wohnung, in der er lebt, soll nichts verraten – und sagt doch alles über ihn.

Nostalgie, Heimweh, das sind Wörter, die ihm nichts mehr sagen. Die Vergangenheit liegt hinter ihm. „China betrifft mich nicht“, sagt Gao kalt. Seiner Frau, Céline Yang, gehe es ebenso. Auch sie schreibt, auch sie hat China vor zwei Jahrzehnten verlassen. „Wir haben Schluss gemacht mit dem Erinnern.“ Seine Frau ging 1989, nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Gao selbst hatte seine Heimat bereits ein Jahr zuvor verlassen. Als er erfuhr, dass die Panzer friedliche Demonstranten überrollten, zerriss er seinen chinesischen Pass. Neun Jahre später bekam er die französische Staatsbürgerschaft. Seine Frau hat einen französischen Vornamen angenommen, Céline, weil auch sie sich als Französin fühlt. Keine Nostalgie, das scheint der Pakt zu sein, der sie verbindet.

Gao wird Ende der Woche nach Frankfurt fahren, zur Buchmesse. China ist Ehrengast. Er, der Literaturnobelpreisträger, ist es nicht. Eine offizielle Einladung der Buchmesse hat es für ihn nicht gegeben. Der DAAD hat ihn nach Frankfurt gebeten, der Deutsche Akademische Austauschdienst, dem Gao verbunden ist, seit er 1985 ein ganzes, für ihn aufregendes Jahr in Berlin verbracht hat. Auch Gao ist also Teil jener Gratwanderung, als die Messechef Juergen Boos die diesjährige Buchmesse bezeichnet hat. Kurz zuvor hatte er den beiden regimekritischen Autoren Dai Qing und Bei Ling nahegelegt, einem China-Symposium im Messevorfeld fernzubleiben. Als die beiden dennoch erschienen, ließ Chinas ehemaliger Botschafter Mei Zhaorong erbost wissen, dass er nicht nach Frankfurt gekommen sei, „um Lektionen in Sachen Demokratie erteilt zu bekommen“.

Es ist wie immer. Das übliche Spiel. Gao kennt es in- und auswendig, es regt ihn nicht mehr auf. Schon vor fünf Jahren hat er Ähnliches erlebt, als China Gastland des französischen „Salon du Livre“ war und Gao, der eine Metrofahrt von den Messehallen entfernt lebte, nicht eingeladen wurde. Als das zum Skandal wurde, forderten die Veranstalter ihn herzlich auf, doch einfach so zu kommen, „als Autor“, wie andere Kollegen auch.

Gao blieb fern. Lächelte, wie immer. Auch dieses Mal zeigt er keine Spur persönlicher Kränkung: „Das ist Diplomatie, das hat mit Literatur nichts zu tun.“ Das neue, erfolgreiche China gefällt Gao ganz offensichtlich nicht, das China des Wirtschaftsbooms und der Pseudo-Öffnung, das sich auf Buchmessen, auf Festivals und bei den Olympischen Spielen als Demokratie gebärde, in Wahrheit aber eine Diktatur geblieben sei. Nein, sagt Gao kategorisch, es gebe keinen echten Wandel: „Die wirtschaftliche Öffnung hat China vor der Misere bewahrt, aber sie ging nicht mit einer ideologischen einher. Wer daran geglaubt hat, war naiv.“

Wie darf man sich die chinesischen Schriftsteller vorstellen, die Teil der offiziellen Delegation sind? Liest er sie? Und ist einer darunter, der nicht zensiert wird, sich nicht selbst zensiert? „Unmöglich“, sagt Gao, „völlig ausgeschlossen.“ Während der Kulturrevolution musste er einen Koffer voller Manuskripte verbrennen, „30 Kilo meiner selbst“. In seinem autobiografisch gefärbten Roman „Das Buch eines einsamen Menschen“ beschreibt er, wie er in seinem Zimmerofen Blatt für Blatt verbrennt, Nacht für Nacht, und das verkohlte Papier in einem Wassertrog versenkt, damit kein Fetzen durch den Schornstein entschwebt, der ihn verraten könnte. Sein Verbrechen war es, ein Freidenker zu sein, der aufgeklärte und gebildete Sohn einer gutbürgerlichen Familie. Er kam wie seine Eltern für fünf Jahre ins Arbeitslager. Der Vater, einst hochgestellter Bankbeamter, kam gebrochen wieder und starb wenig später. Seine Mutter, eine Laienschauspielerin, starb noch während der Kulturrevolution. Ihre Leiche wurde in einem Fluss gefunden.

Gao ging nach Peking, arbeitete als Übersetzer, später am Theater. Er begann, sich selbst zu zensieren, so zu schreiben, dass seine Texte und Dramen die Zensurbehörde passierten. Es gelang ihm nur kurze Zeit. 1983 wurde sein Stück „Arrêt de Bus/Bus Stop“ von einem Parteiobersten als „schädlichster Text seit der Gründung der Volksrepublik“ bezeichnet. Gao wurde zur Zielscheibe der Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“. Von da an war ihm klar, dass Selbstzensur so verheerend wie sinnlos ist. Er beschloss, nur noch für einen einzigen Leser zu schreiben: sich selbst.

Ein Jahr später diagnostizierte man Lungenkrebs, die Krankheit, an der sein Vater gestorben war. Auch hieß es, ihm drohe erneut die Einweisung ins Arbeitslager. Gao verließ Peking, die Krebsdiagnose erwies sich auf wundersame Weise als falsch, und er begann eine fünf Monate währende Reise, Flucht und Pilgerfahrt zugleich. Sie führte ihn in die Wälder Zentralchinas, an die Ostküste, den ganzen Jangtse hinunter durch acht Provinzen und sieben Naturschutzgebiete, 15 000 Kilometer auf der Suche nach einem anderen China und einem freien Selbst. Das Buch, das er unterwegs begann, „Der Berg der Seele“, beendete er erst in Frankreich. Später folgte „Das Buch eines einsamen Mannes“, in dem er die Begegnung zweier Menschen in Hongkong beschreibt, die beide an ihrer Erinnerung leiden: die eine ist deutsche Jüdin, der andere ein erfolgreicher chinesischer Exilautor.

Zwei autobiografische Romane hat Gao geschrieben, zwei Versuche der Selbstrettung durch das Wort, ihnen verdankt er den Literaturnobelpreis. Frankreich hingegen verdankt er seine schöpferischste Phase, er arbeitete hier ununterbrochen, fünf Jahre liegt sein letzter Urlaub zurück. Es ist, sagt er selbst, als müsse er ein Leben nachholen. Er war immerhin schon 48, als er China verließ.

Vom Schreiben, versichert er, könne er dennoch nicht leben, daran habe auch der Nobelpreis nichts geändert. Ohnehin erwies sich der Preis als vergiftetes Geschenk: Zwei Jahre dauerte der Wirbel an, jeden Tag kam säckeweise Post, in der Wohnung war kaum noch Platz. Dann brach Gao zusammen. Nach zwei schweren Herzoperationen schob er einen Riegel vor, er wurde medienscheu, mied die Kongresse, zu denen man ihn einlud. Einen Roman hat er seither auch nicht mehr geschrieben. Nur Erzählungen, Theaterstücke. Und gemalt hat er. Viel. Düstere Bilder.

Seine Kindheit hat er einmal als „verlorenes Paradies“ bezeichnet. Als er acht war, forderte ihn die Mutter auf, Tagebuch zu schreiben, sie brachte ihn zur Literatur. Auch ein Foto von ihr musste er damals vernichten. Gao verbrannte das Bild seiner ertrunkenen Mutter, er versenkte es in demselben Wassereimer, in dem seine verkohlten Notizen einen schwarzen Brei der Erinnerung bildeten.

Gao hat mit China gebrochen. Er hat tatsächlich keinen Kontakt mehr zu Freunden, nicht einmal zu seinem jüngeren Bruder. Doch er wirkt versöhnt mit sich und seiner neuen Welt. Er ist Europäer geworden, er liest keine chinesische Literatur, er liest die Bibel, die europäischen Klassiker. Wo seine Bücher sind? Viele habe er nicht, sagt Gao. Die wenigen, von denen er sich nicht trennen kann, verstaut er in Schränken. Das ist die Lehre des Exils: sich freizumachen von Ballast. Außerdem habe er ein sehr gutes Gedächtnis, versichert Gao. Seltsam für einen, der mit so vielen Erinnerungen abgeschlossen hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false