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© dpa

Georg Klein: Wunderbar aufgeschnitten

Gewinner des Buchpreises: Georg Klein hebelt in seinem „Roman unserer Kindheit“ die Realität aus.

In der Requisitenkammer des Schauerromans hat sich der Schriftsteller Georg Klein schon immer wohlgefühlt. Dämonen, Kobolde, blutrünstige Tiere und finstere Märchengestalten bevölkern seine Romane, in denen die Menschenvernunft wenig ausrichten kann gegen ein irrational-groteskes Theater der Grausamkeit. Zu den liebsten literarischen Totemtieren Kleins gehört der „Große Bär“, das „Wolkenpelztier mit den alten Augen“, das schon Ingeborg Bachmann in ihrer „Anrufung des Großen Bären“ beschwor. In einer bizarren fantastischen Volte am Ende seines neuen Romans lässt Klein nun einen falschen Bären zu einem tödlichen Duell gegen die sieben Kinder antreten, die als renitente Antihelden des Buches aus ihrer spießigen Lebenswelt ausbrechen wollen.

Auf den ersten hundert Seiten dieses Romans tut Klein alles, um seine Leser mit den Methoden eines handfesten Realismus anzulocken und mit den Wunsch- und Traumrealitäten einer Kindheit im biedermeierlichen Nachkriegsdeutschland vertraut zu machen. Schauplatz ist das gesichtslose Neubauviertel einer süddeutschen Provinzstadt Anfang der sechziger Jahre, in dem sieben Halbwüchsige ihre Sommerferien als großes Abenteuer inszenieren. Der „Ältere Bruder“, die „Schicke Sybille“, der „Ami-Michi“, der „Wolfskopf“, der „Schniefer“ und „die Zwillinge“ sind zwar erst zehn und elf Jahre alt, aber neugierig und tatenlustig genug, um die Welt der Erwachsenen aus den Angeln zu heben. Es gibt zwar eine allwissende Ich-Erzählerin mit „glubschäugiger Allsicht“, ihre genaue Identität bleibt jedoch ein Geheimnis.

Im Verlauf des Romans treten immer häufiger Traumsequenzen, halluzinatorische Partien und Märchenfragmente gleichberechtigt neben die detailverliebten Erzählungen aus der Lebenswelt der Kinder. Zahlreiche Passagen des Romans lesen sich wie eine Kulturgeschichte der verschwundenen Dinge – von der begehrten „Wundertüte“ und ihren Innereien aus Plastikfiguren und Süßigkeiten über die „braune Amibrause“ bis hin zum Sammelbildalbum werden all die kleinen und großen Vergnügungen einer fernen Kinderzeit akribisch rekonstruiert. Die moralisch verklemmte Lebenswelt der frühen Sechziger wird mit mehr oder weniger anzüglichen Witzen ausstaffiert.

Im Verlauf des Romans steigert Klein jedoch seine Leidenschaft für jene „langen, ornamental verschlungenen und symmetrisch verspiegelten Geschichten“, die zu seinem Markenzeichen geworden sind. Immer hektischer wechseln die Perspektiven und immer häufiger überwölben die fantastischen Visionen der Figuren den Realismus, mit dem der Autor sein Terrain abgesteckt hatte.

Als Repräsentanten der Erwachsenenwelt agieren drei Kriegsversehrte, die jenen Comic- und Landserheften entsprungen scheinen, die Klein einmal als seine frühen Lieblingslektüren beschrieben hat. Der blinde „Fehlharmoniker“ mit dem Akkordeon, der „Mann ohne Gesicht“ und der beinamputierte ehemalige Panzerkommandant „Silber“ sind Überlebende der nationalsozialistischen Schrecken. Der tatenhungrige „Silber“ träumt dabei nicht nur den Albtraum von der finalen Schlacht der Wehrmacht-Panzerfahrer, sondern ist auch ein literarischer Nachfahre des legendären Schiffskochs „Long John Silver“ aus Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“.

Gegen Ende des Romans frönt Klein seiner Lust an der erzählerischen Ausschweifung: Er schickt seine Helden, nachdem ein Totschlag an einem neugierigen Briefträger vollzogen wurde, durch den Untergrund der Neubausiedlung, lässt sie durch ein düsteres Labyrinth unterhalb eines Bierkellers streifen, das schließlich Schauplatz des grellen Finales wird.

Wie beim Fantastiker Klein üblich, dient dieses Labyrinth dazu, dem Leser immer neue Schocks zu versetzen und ihn kalkuliert in die Irre zu führen. In einer Anmerkung hat der Autor dieses „eskapistische“ Verfahren reflektiert: „Falls es sich, wie ein Heimatkundler erst neulich in der Zeitung spekulierte, um Fluchtwege handeln sollte, bleibt unklar, wovor geflohen wurde und wohin sich dieser Eskapismus wenden wollte, denn Ausgänge zurück ans Licht der Oberwelt sind nie gefunden worden.“ Im Fortgang des Romans, der erkennbar Autobiografisches verarbeitet, verrätselt sich die Handlungslogik immer weiter. Auf den letzten hundert Seiten treibt der Autor seinen Plot ins Surrealistische: In den Sommernächten der Provinzkindheit ereignen sich auf einer ausgemusterten Couch, in einem hohlen Laubbaum und auf einer Kegelbahn im Wirtshaus wunderliche Absurditäten. „Und weil er in allen Fällen an die heilende Kraft des Wortes glaubt“, so heißt es bewundernd von einem der Kinder, „gibt unser wunderbarer Aufschneider und Zusammenstückler auch als Erzähler sein Bestes“.

Bei seinem epischen Ausflug in die versunkene Welt der Sechziger hat auch Georg Klein als „wunderbarer Aufschneider“ sein Bestes gegeben. Doch zu sehr kokettiert der Autor mit seinen manieristischen Satz-Gebärden und ironischen Stilkniffen. Das Vergnügen, das er am ornamentalen Erzählen und an plakativen Kalauern findet, muss man nicht immer teilen: „Wieder geht mir das Luder aus dem Ruder.“

Georg Klein: Roman unserer Kindheit. Rowohlt Verlag, 448 Seiten, 22,95 €.

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