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Héctor Abad: Der ideale Gott

Familienleben in Medellín, Kolumbien: Héctor Abad schreibt einen Brief an seinen von Paramilitärs ermordeten Vater. Mit dem Buch gelingt ihm, die Durchdringung von privatem und öffentlichen Leben festzuhalten.

Zahllos sind in der Literatur die Versuche, das Leben eines nahestehenden Menschen zu fassen – und vielfältig die Tonarten. Verklärende Elogen, nachsichtige Erinnerungen oder zornige Abrechnungen – all das gibt es und noch viel mehr. Und fast immer muss viel Zeit vergehen, ehe die Autoren solcher Bücher tatsächlich ans Schreiben gehen. Das wohl berühmteste Dokument seiner Art, Kafkas „Brief an den Vater“, wurde nie abgeschickt und erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Für Christoph Meckel kam der tote Vater nach neun Jahren zurück, nachdem er dessen Kriegstagebücher gelesen hatte und das Bild des Bewunderten Risse bekam. Meckel konnte wohl gar nicht mehr anders, als diese Geschichte von Schuld und Verstrickung zu schreiben. „Suchbild – Über meinen Vater“ ist, wiewohl vor beinahe dreißig Jahren erschienen, bis heute eines der berührendsten Bücher dieser Art Literatur. Sie ist, vielleicht mehr als die Mutterbücher, ein weltweites Phänomen – es gibt strafende Väter, abwesende Väter, vergötterte oder kämpfende Väter.

Der Kolumbianer Héctor Abad Gómez, der 1987 in Medellín auf offener Straße von Paramilitärs ermordet wurde, war ein für eine bessere Welt, aber vor allem für ein gerechteres Kolumbien kämpfender Vater. Sein Sohn, der Schriftsteller und Journalist Héctor Abad Faciolince hat zwanzig Jahre vergehen lassen, bis er den ersten Satz seines Buches über den Vater zu Papier brachte, um damit „die Erinnerung an ihn ein wenig zu verlängern, bevor das Vergessen einsetzt“.

Héctor Abad hatte eine behütete Kindheit und einen Vater, der auf manchmal schon unvernünftige Weise an seinen Sohn glaubte. Besonders, wenn es diesem schlecht ging und er von Selbstzweifeln geplagt wurde. So gibt es eigentlich im gesamten Buch nur eine einzige Stelle, an der das Bild dieses „idealen Gottes“, so Abad, erschüttert wird.

Vater und Sohn sind in einem alten Cadillac im Norden von Texas unterwegs, als der Jüngere aufs Gas tritt, den Wagen immer mehr beschleunigt und schließlich in eine Herde von Ziegen lenkt. Abad interpretiert die Szene in seinem Buch als Versuch, den niemals zornigen Vater endlich auszulöschen und die übermäßige Nähe zu ihm zu zerstören. Héctor Abad Gómez war ein sehr toleranter Vater, der seinem Sohn niemals mit Klagen oder Vorwürfen begegnete, „nicht als ich viermal das Studienfach wechselte noch als ich von der Universität geworfen wurde, weil ich etwas gegen den Papst geschrieben hatte, nicht als ich arbeitslos war, eine Tochter zu ernähren hatte und mit meiner ersten Frau in wilder Ehe zusammen lebte“.

Der Sohn dankte es ihm mit zum Teil überschwänglicher Liebe. Als der Vater einmal länger verreiste (im Grunde eine Reise, die eher eine Flucht vor politischen Unterstellungen seitens der Konservativen gegen den vermeintlichen Linken war), verlangte das Kind von seiner Mutter, „die Laken und Kissenbezüge nicht zu wechseln, damit ich wenigstens noch seinen Geruch atmen konnte, der für mich das Zeichen von Schutz und Seelenfrieden war“.

„Brief an einen Schatten“, den Schatten des ermordeten Vaters, ist zuallererst das berührende Dokument einer Sohnesliebe, in dem sich aber immer wieder Passagen zur Innenpolitik eines geplagten Landes spiegeln, in dem ein Menschenleben nur wenig wert ist – nach Auskunft von Hector Abad knapp 250 Dollar, wie Heinrich von Berenberg in seinem Vorwort berichtet. Man merkt dem Buch leider an, dass es vor allem für den kolumbianischen Leser geschrieben wurde; ein Personenverzeichnis wäre nützlich gewesen, um das Geflecht der Personen im Umfeld von Héctor Abad Gómez wenigstens halbwegs zu durchdringen.

Das Buch beginnt mit glücklichen Szenen aus der Kindheit des Erzählers. Wir erleben einen Haushalt, in dem vor allem die Frauen das Sagen haben und der einzige Mann sich höheren Dingen widmet: „Leid habe ich nicht an mir selbst oder bei mir zuhause kennengelernt, sondern bei anderen.“ Aus Héctor Abad Gómez war, trotz seines Medizinstudiums in Medellín, nie ein wirklicher Arzt geworden. Vielmehr war er ein Wissenschaftler, ein Volksaufklärer, dem es darum ging, sein in Fragen der Hygiene völlig unterentwickeltes Volk zu organisieren, die Kindersterblichkeit einzudämmen und sauberes Trinkwasser für die Ärmsten der Armen zu beschaffen.

Wir lernen einen politischen Aktivisten kennen, der immer wütender die Politik der Herrschenden im Land anprangerte, der aber anfangs auch die Verbrechen im sowjetischen Gulag überging, weil er glaubte, das alles sei reine Propaganda. Erst als Gómez Ende der siebziger Jahre von einer Reise aus der Sowjetunion zurückkehrte, änderte er seine Ansichten und predigte fortan einen „Sozialismus der lateinamerikanischen Art“.

Doch sind es eben nicht die manchmal ein wenig ausschweifenden Einblicke in das politische Engagement seines Vaters, die dieses Buch von Héctor Abad auszeichnen, sondern vielmehr die Episoden aus dem Alltag, vor denen das Bild des unverbesserlichen Idealisten erst wirklich Kontur bekommt. Da schimmert manchmal auch verhaltene Kritik hindurch, aber ohne dass das Bild des Vaters beschädigt würde.

Der Versuch, ein privates und ein öffentliches Leben als sich wechselseitig durchdringend festzuhalten, ist Hector Abad auf beeindruckende Weise gelungen, am brilliantesten dort, wo er den „stummen Kampf“ zweier zerstrittener oder zumindest gespaltener lateinamerikanischer Familien beschreibt, jener des Vaters und jener der Mutter. Es ist ein Kampf, der sich mit jeder neuen Generation fortzupflanzen scheint: „Ich spürte, wie auch in meiner eigenen Familie ein Krieg zwischen zwei Lebenskonzepten ausgefochten wurde. Auf der einen Seite jene zornige, sieche Gottheit, die man weiter furchtsam verehrte, auf der anderen die Vernunft.“

Sein Vater war unbestreitbar ein Vertreter der Vernunft, aber im Alltag verwischten die Grenzen nicht selten, handelte „der Agnostiker wie ein Mystiker, die Mystikerin in mancher Hinsicht wie eine Materialistin“. Bevor er ins Flugzeug steigt, bekreuzigt sich der Vater, die Mutter, aus einer tiefreligiösen Familie stammend, krempelt im Alltag die Ärmel hoch.

Am Ende beschreibt Héctor Abad den Mord an seinem Vater, der nie hinreichend aufgeklärt wurde; die Akten verschwanden im Archiv. Er erzählt, minuziös mögliche Zusammenhänge auslotend, wie er selbst diesen Tag erlebte: „Er ist tot, und ich weiß es nicht.“

Als die tödlichen Schüsse auf den Vater fallen, besucht der Sohn eine politische Versammlung in der Universität. Im Dezember 1987 verlässt Héctor Abad Faciolince, der heute wieder in Medellín lebt, Hals über Kopf Kolumbien und geht, wie viele seiner Landsleute, für Jahre ins Exil.

Ein trauriges Grundgefühl vom Bewusstsein des Todes durchzieht dieses Buch, an dessen Schluss sich auch ein paar Zeilen aus den „Strophen auf den Tod meines Vaters“ des Dichters Jorge Manrique finden, die Héctor Abads Vater auf den langen Spaziergängen mit seinem Sohn so oft rezitierte: „Und obwohl er sank ins Grab, / Gönnt uns reichen Trosts Gedenken / Die Memorie.“

Héctor Abad: Brief an einen Schatten.

Berenberg Verlag 2009. 198 Seiten, 24 €.

Volker Sielaff

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