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Hör BÜCHER: Im Archiv der Stimmen

Jens Sparschuh wünscht sich, dass Autoren ihre Texte selbst lesen

Sicher gibt es gute Gründe, ausgebildete Schauspieler zu engagieren, damit sie bei Hörbuchproduktionen die Texte einlesen. Sie haben das schließlich gelernt und sie wollen auch beschäftigt werden. Noch bessere Gründe aber gibt es dafür, die Autoren, sofern möglich, selbst zu Wort kommen zu lassen. Mag bei ihnen die Artikulation auch nicht hundertprozentig perfekt sein, mögen Endungen verschluckt werden oder hier und da ein „s“ zischen – erst auf diese Weise werden Hörbücher zu Tondokumenten, wird aus einer Hörbuchsammlung ein Literaturarchiv der Stimmen.

Anlässlich des 70. Geburtstages von Jurek Becker hat der Hörbuchverlag in München die 1976 für die Ostberliner Litera aufgenommene Autorenlesung von „Jakob der Lügner“ neu aufgelegt. Jurek Becker, 1937 in Lódz geboren, wuchs im Ghetto auf. Mit seiner Mutter war er in Ravensbrück und Sachsenhausen interniert. 1945 kam er mit dem Vater nach Ostberlin. Da war er acht Jahre alt. Aus dem im Booklet abgedruckten Text „Mein Judentum“ erfährt man, dass Jurek Becker erst in diesem Alter Deutsch lernte. „So wie andere Kinder meines Alters sich für Maikäfer oder Rennautos interessierten und sie von allen Seiten betrachteten, so drehte und wendete ich Wörter und Sätze.“ Diese intensive Beschäftigung mit der Sprache war seine einzige Möglichkeit, sich in einer ihm fremden Welt zu behaupten.

Etwas davon klingt nach, hört man Beckers Lesung: Wie er als Erzähler sich langsam, behutsam in die Geschichte von Jakob Heym hineintastet, dessen geheimes Radio die Ghettobewohner mit Nachrichten vom Vormarsch der Roten Armee versorgt. Das Problem ist nur: Jakob, der Lügner, hat gar kein Radio. Plato sagt: Dichter lügen die Wahrheit. In genau diesem Sinne ist Jakob Heym ein Dichter. Wenn etwas für Jurek Beckers Sprechen charakteristisch war: Man konnte hören, wie er beim Reden nachdachte. Das ist selten und deshalb kostbar. Auch als Romancier und Vorleser ist Jurek Becker dieser Sprachduktus eigen. Er sucht nach den richtigen Wörtern, manchmal nach dem einen richtigen Wort. Immer schwingt da auch ein Zweifel mit, ob das Entscheidende überhaupt zu erzählen sei.

Ein Schauspieler hätte diesen besonderen Ton so gar nicht treffen können. Und womöglich wäre er, um die Wirkung zu steigern (und damit alles falsch zu machen!) sogar der Versuchung erlegen, die deutschen Bewacher mit besonders schnarrenden, bellenden Stimmen zu versehen. Nichts dergleichen bei Becker. Nicht nur den Opfern, auch den Tätern – es geht ja gar nicht anders – muss Becker seine Stimme leihen. Was an der Oberfläche beinahe wie Gleichmütigkeit klingt, bringt dem heutigen Hörer mehr als jede Theatralisierung die ganze Tragödie des Geschehenen nah. Es wird nicht einfach ein Text vom Blatt gelesen – jemand erzählt uns eine Geschichte, die Legende von Jakob, dem jüdischen Eismann und Kartoffelpufferbäcker. Der orale Ursprung allen Erzählens ist hier zu spüren, scheinbar entsteht diese Geschichte gerade erst im Moment des Erzählens. Ein magischer Vorgang – und ein großes Glück, dass es dieses Hörbuch gibt.

Dass es in manchen Fällen überhaupt nicht ohne die Stimme des Autors geht, hört man bei Oskar Pastiors „Die letzte Lesart“ (Der Hörverlag, 2007), der von Klaus Ramm besorgten Rekonstruktion der Georg-Büchner-Preis-Lesung, die Pastior nicht mehr halten konnte, weil er wenige Tage vorher in Frankfurt am Main gestorben war. Alle Tonlagen dieses singulären Werkes klingen hier noch einmal auf. Oskar Pastior zu hören ist die adäquateste Art, in sein Sprachuniversum einzudringen.

Diese Texte bilden nichts nach, sie stellen etwas her, das es vordem noch nicht gab: eine Weltschöpfung aus dem Wort. Wir suchen Halt bei einem Wort, das wir zu kennen meinen, und schon im nächsten Moment – da die Kausalität vom Dienst suspendiert ist – wird uns der Boden unter den Füßen weggezogen. Die beim Hören beschäftigungslosen Augen ruhen halbgeschlossen auf verschiedenen Dingen: Tisch, Glas, Rose – da erkennen wir, ebenso erblassend wie alle herkömmliche Semantik: Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose.

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