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Hör BÜCHER: Kamillentee gegen die Ungerechtigkeit

Jens Sparschuh lauscht bedrängten Herzen

Einsamkeit, wie bist du übervölkert!“ Dieser erstaunte – und höchst erstaunliche – Ausruf stammt von einem der erfahrensten Welt-Reisenden, der unsere Breiten (und vor allem Tiefen) erforscht hat: Stanislaw Jerzy Lec. Zwei Bewohner dieses weltweit wohl bevölkerungsreichsten Kontinents, der auf keinem Atlas verzeichnet ist, lernen wir bei Richard Yates (1926 – 1992) kennen: (Elf Arten der Einsamkeit, Kein & Aber, 2008). Grace, am Abend vor ihrem Hochzeitstag, steht vor einem Dilemma: Eigentlich ist Ralph ja ganz nett. Aber sie kennt ihn noch gar nicht richtig; nein!, sie kennt ihn schon allzu gut. Und während sie in diversen Zweifeln sowie ihrem neuen, übrigens sehr aufreizenden Negligé auf der Couch sitzt und wartet, vergeht Ralph fast vor Aufregung: Seine Junggesellenkumpel haben ihm doch tatsächlich die braune Reisetasche geschenkt, die er sich schon so lange gewünscht hat; diesen Abend wird er, glasklar, mit ihnen in der Kneipe verbringen.

In der zweiten Geschichte, „Überhaupt keine Schmerzen“, besucht Myra ihren Mann Harry, der schon ewig im Krankenhaus ist. Auch die Liebe zwischen den beiden krankt, beziehungsweise ist schon ewig her. Alles keine großen, weltbewegenden Dramen. Yates aber ist ein psychologischer Feinzeichner, und Nina Hoss liest das so betörend – man könnte ihr ewig zuhören.

Dass man nicht extra bis nach Amerika muss, um die endlosen Weiten der Einsamkeit zu erkunden, zeigt die deutsche Autorin Annette Pehnt (Mobbing, Hörbuch Hamburg, 2008). Diesem, mit suggestiver Kraft von Nina Petri gelesenen Hörbuch kann man sich nicht entziehen – es ist ein Hörereignis!

Elf Jahre hat Joachim zwischen Grünpflanzen und den eher grauen Kollegen A. und T. im Büro einer städtischen Verwaltung gearbeitet; nun ist eine neue Chefin angetreten, im Marschgepäck die alte lateinische Schulweisheit: Divide et impera! Joachim wird nicht mehr gegrüßt; seine Post wird geöffnet; statt an Projekten zu sitzen, muss er seine Zeit jetzt auf öden Datenbanken absitzen. So beginnt ein Bürokleinkrieg, der nach eigener Logik immer verheerendere Ausmaße annimmt, bis am Ende der größtmögliche Kollateralschaden eintritt: Joachim wird fristlos gekündigt.

Zunächst habe ich mich gefragt, warum die Chefin – gewissermaßen das Zentrum des Bösen – so merkwürdig gesichtslos bleibt. Alle Versuche, sich ein Bild von ihr zu machen, scheitern. Antwort darauf erhielt ich im Booklet. Statt sinn- und nutzlos Werbung zu verstreuen, hat der Verlag hier Auszüge aus einem instruktiven Interview mit der Autorin abgedruckt.

Es liegt an der besonderen Erzählperspektive! Die Ich-Erzählerin – Joachims Frau – beobachtet den Gemobbten zwar aus nächster Nähe, doch wir merken, wie diese Nähe allmählich verloren geht. Was sie sporadisch etwa über die Chefin erfährt, das erfährt sie von Achim, aber der redet kaum noch mit ihr. So wird auch nie ganz klar, wie viel Selbstverschulden und Eigensinn Joachims diese Maschinerie aus Demütigungen und Zurückweisungen schließlich in Gang gesetzt haben.

Szenen von absurder Komik gibt es in diesem Kammerspiel: Wenn Joachim, frisch entlassen, mit seine Tochter im Kindergarten Figuren aus Salzteig formt und ihm, unter der Hand, ein Totenkopf entsteht, worauf die zufriedene Erzieherin feststellt: „Die Eltern bringen immer so schöne Impulse.“ Eingestreute Dialogpassagen verdichten punktuell die Dramatik in dieser Chronik eines Abstiegs: Gespräche, stets am Rande des Verstummens, der Sprachlosigkeit. Und die „Vorschläge von Freunden und Bekannten zur Besserung der Situation“ zeigen nur die ganze Aussichtslosigkeit: Hilft Kamillentee wirklich gegen die Ungerechtigkeit der Welt?

Es ist der genaue Blick aufs Detail, der diesen unprätentiösen, klugen Gesellschaftsroman auszeichnet und mich an Bücher aus dem englischsprachigen Raum erinnert. Das Interview im Booklet dieser höchst durchdachten Edition endet übrigens nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage: Ist das Schicksal der beiden wirklich unabwendbar? Der Hörer hat 203 spannende Minuten Zeit, das selbst zu entscheiden.

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