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Interaktiver Krimi: Messerattacke nach Mausklick

Kolja Mensing über das neue Zusammenspiel von Netz und Literatur

Sebastian Fitzeks letzter Roman war schon verfilmt, bevor das Buch in den Handel kam. Eine Berliner Werbeagentur hatte einen 43 Sekunden langen Werbespot für das Internet gedreht, der mit einer Handvoll düsterer Bilder aus einer Nervenheilanstalt und ein paar verstörenden Soundeffekten einen ersten Einblick in Handlung des Psychothrillers gab. Es hat funktioniert: Fitzeks „Splitter“ zählt im Rückblick zu den bestverkauften deutschen Kriminalromanen des vergangenen Jahres, und ein Teil des Erfolges ist vermutlich dem kinoreifen Trailer geschuldet. Der kurze Film wurde von Youtube aus durch die Social Networks gereicht, auf unzähligen Blogs und Fan-Sites verlinkt – und darüber hinaus vom Verlag natürlich an prominenter Stelle bei Amazon.de platziert. Klick mich, guck mich, kauf mich: So funktioniert Buchmarketing im 21. Jahrhundert.

Der „Splitter“-Spot ist kein Einzelfall. Dan Browns „Symbol“, Frank Schätzings „Limit“ oder Kathy Reichs letzter Tempe-Brennan-Roman „Das Grab ist erst der Anfang“ sind gezielt mit aufwendig produzierten Trailern beworben worden. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis das Prinzip des visuellen Klappentextes auf das Produkt selbst zurückschlagen würde: Warum sollte man einem Buch nicht gleich ein paar mehr bewegte Bilder an die Seite stellen?

Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Anthony E. Zuiker getan. Zuiker ist als Drehbuchautor und Erfinder der hyperrealistischen Fernsehserie „CSI“ bekannt geworden und hat damit in den letzten zehn Jahren neue Standards auf dem Gebiet des „crime drama“ gesetzt. Jetzt hat er zusammen mit Duane Swierczynski den Thriller „Level 26“ (Aus dem Amerikanischen von Axel Merz, Lübbe, Bergisch Gladbach 2009, 428 Seiten, 14,99 €) geschrieben – eine technisch avancierte Cop-jagt-Serienkiller-Geschichte, die uns zu Beginn erst einmal in einen der genretypischen „dunklen, feuchten Keller“ führt. Hier hat sich ein ultrabrutaler Massenmörder einen privaten Kinosaal eingerichtet, mit einer stattlichen Anzahl von Super-Acht-Filmen, auf denen er seine Gewalttaten dokumentiert hat.

Bis zu diesem Punkt ist „Level 26“ ein eher konventioneller Krimi. Doch dann wählt der Killer die Kassette mit der Aufschrift „Die Hure des Senators“ aus, um sich für sein nächstes Massaker schon mal in Stimmung zu bringen – und während sein Atem bereits „heiß vor Erwartung“ ist, machen uns Zuiker und Swierczynski auf Seite 31 ein Angebot, das wir auf keinen Fall ablehnen können: „Um den Acht-Millimeter-Film zu sehen, gehen Sie auf die Website www.level26.com und geben dort den Code ein: Snuff.“ Bitte schön: Probieren Sie das ruhig zu Hause aus. Bevor Sie den Computer hochfahren, sollten sie ihre Kinder allerdings besser aus dem Zimmer schicken. Auf der garantiert nicht jugendfreien Website dürfen Sie sich nämlich nicht nur in einem kurzen Videofilm anschauen, wie der Killer mit einem Messer in der Hand über sein Opfer herfällt, sondern drei Kapitel später auch seinen ausgebrannten Gegenspieler, den Profiler Steve Dark, dabei beobachten, wie er – Code: „Sibby“ – zu Hause vor dem Kamin Sex mit seiner hochschwangeren Frau hat: „Genau das brauchte er jetzt, um von seinem Schmerz abgelenkt zu werden.“

Das Überraschende an diesem interaktiven Bilderbuch-Krimi im Youtube-Format ist nicht, dass die Grenze des guten Geschmacks wieder mal ein bisschen durchlässiger geworden ist. Da hat uns Anthony E. Zuiker mit seinen CSI-Episoden, in denen abgetrennte Körperteile und halb verweste Leichen zur Standardausstattung einer Szene gehören, schon mehr zugemutet. Schockierend ist eher, dass der Leser beziehungsweise User hier vollkommen aus der Verantwortung entlassen wird: „Level 26“ ist eine Wunschmaschine mit multimedialem Hybridantrieb, die die bei der Lektüre des Buches geweckten Erwartungshaltungen umgehend im Internet befriedigt. Die mit dem Text verlinkten Clips zeigen uns in hochaufgelösten Bildern all das, was wir uns ansonsten mühselig vorstellen müssten. Wir brauchen unsere schmutzige Fantasie also gar nicht erst groß bemühen, die nächste Dosis Sex und Gewalt ist nur einen Mausklick entfernt.

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