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J.M. Coetzee: Vom Glück, sich selbst zu widersprechen

Politischer Essay, Liebesroman, polyphone Invention: J.M. Coetzees meisterhaftes "Tagebuch eines schlimmen Jahres“.

Von Gregor Dotzauer

Dieses Buch hat gerade noch gefehlt: „Sechs bedeutende Schriftsteller sagen, woran die heutige Welt krankt.“ Haben inzwischen nicht auch die kleinsten Lichter in der Republik des Geistes begriffen, dass Kanzelredner in die Kirche gehören? Wo Generaldiagnosen gestellt werden, sind Allheilmittel nicht weit. Und haben sich im 20. Jahrhundert nicht so viele große Schriftsteller politisch verirrt und lächerlich gemacht, dass die des 21. Jahrhunderts endlich daraus lernen sollten?

Dieses Buch ist überfällig: als Beweis der unzerstörbaren Fähigkeit, sich durch die Kraft des klaren Worts, also des Denkens, als Spezialist für das Allgemeine zu bewähren. Und als Demonstration gegen den Spott, ja die Verachtung, dem dieses intellektuelle Vermögen mehr und mehr ausgesetzt ist. Ein solches Buch setzt außerdem lediglich fort, woran jeder ernst zu nehmende Schriftsteller Tag für Tag arbeitet.

Schade, dass dieses meinungsstarke Pamphlet nie in seiner Gesamtheit geschrieben wurde. Immerhin kann man in J. M. Coetzees „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ wenigstens ein Sechstel davon lesen: die tour d'horizon eines fiktiven Schriftstellers, die sämtliche Vorteile eines solchen Unternehmens bietet – und sämtliche Vorurteile mobilisiert. Er hat seine Gedanken auf Band gesprochen und einer jungen Sekretärin zur weiteren Bearbeitung überlassen.

Was wird hier nicht alles in kleinen Kapiteln abgehandelt: die verbrecherische Dummheit von George W. Bush, die Korruptheit von Tony Blair, die Schande von Guantánamo Bay, die anmaßende Umkehrung des Verhältnisses von Herr und Knecht in der Beziehung von Bürger und Staat, der trügerische Glaube an den Markt, die Überwachung der weltweiten Kommunikationswege, das Elend der Universitäten, der Untergang einer klassischen, noch von metaphysischem Hunger getriebenen Musiktradition, die gefährliche Affinität der Flüchtlings- zur Deportationspolitik, der Umschlag des sportlichen Wettbewerbs von Spiel in Arbeit und Geschäft, das zweifelhafte Fortleben der Seele nach dem Tod.

Ein Sammelsurium von Positionen, deren eine Hälfte das Herz von Gefühlssozialisten jeden Alters höher schlagen lassen müsste und deren andere Hälfte vor allem zeitgemäß aufbereitete kulturkritische Urinstinkte bedient. Doch die Aufzählung allein erklärt nichts. Erstens wird hier im vollen Bewusstsein des eigenen Zeitindex politisiert: Die Notizen sind auf die Spanne vom 12. September 2005 bis zum 31. Mai 2006 datiert. Zweitens wird hier auch bei vermeintlichen Allgemeinplätzen mit der Coetzee eigenen nüchternen Wucht und Strenge argumentiert, die alttestamentarische Ausmaße annehmen kann. Und drittens denkt hier jemand, der weiß, dass Originalität um der Originalität willen in Grundsatzfragen ein schlechter Ratgeber ist. Nicht von ungefähr windet er sich bei der Antwort auf die Frage, woran die Welt heute in erster Linie krankt, bis er die Vermutung ausspricht, dass es wohl die Ungerechtigkeit sei. „Ungerechte Verteilung, ungerechte Zustände.“

Das Entscheidende ist: Diese im „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ als „Feste Ansichten“ (strong opinions) firmierenden Gedanken sind nicht ohne weiteres das, was sie zu sein vorgeben. Sie belegen Möglichkeit und Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens, dem die Ironie als Mittel der Wahrheitsfindung zu Hilfe kommen muss, damit es sich überhaupt durchführen lässt. Denn die Gedanken gehören einem Schriftsteller, der dem 1940 geborenen, aus dem südafrikanischen Kapstadt stammenden und seit einigen Jahren in Australien lebenden J.M. Coetzee zum Verwechseln ähnelt – bis auf den Nobelpreis, sechs zusätzliche Lebensjahre und eine Parkinsonerkrankung.

Mit dem Roman „Warten auf die Barbaren“ hat dieser als JC, El Señor oder Señor C auftretende Mann sogar ein Buch mit Coetzee gemeinsam. Oder könnte man umgekehrt behaupten, dass JC nun ein Buch mit Coetzee gemeinsam hat? Das „Tagebuch“ (Diary of a Bad Year) ist ein Fall von Metafiktion, der die essayistische Rede einholt und ein Verfahren auf die Spitze treibt, das schon Coetzees letzte Bücher, die Lehrstücke von „Elizabeth Costello“ (2003) und den Roman „Zeitlupe“ (2005) prägte. Was hier so ehern steht, ist nämlich erst durch jene junge Frau dorthin gekommen, die das Parkinson-Gekrakel von El Señor und seine Diktaphonbänder in den Computer getippt hat.

Anya heißt sie, ist mütterlicherseits philippinischen Ursprungs, väterlicherseits durch allerlei Eliteschulen gejagt worden, ohne dass dies tiefere Spuren hinterlassen hätte: eine nicht uneitle Erscheinung, die den alterszerknitterten JC zunächst durch ihr himmlisches Hinterteil zutiefst verwirrt.

Die Seiten dieses „Tagebuchs“ sind wie eine Partitur organisiert. Unter den „Starken Ansichten“ ist zu lesen, wie JC die Begegnung mit „el segretaria“ Anya erinnert, und auf dem Fuß der Seiten findet sich das Ganze aus ihrer Sicht. Eine in drei separaten Textstreifen voranschreitende keusche Liebesgeschichte voller unkeuscher Gedanken, in der Reflektion und Erzählung einander ergänzen, kommentieren und konterkarieren.Eine dreistimmige Invention, die ihren Weg entschlossen zwischen den Gattungsgrenzen sucht.

Sie arbeitet mit raffinierten Vor- und Rückgriffen und einer Entwicklung, die auf der erzählenden Ebene geradewegs in den Krimi führt: Anyas Lebensgefährte, der Anlageberater Alan, schlägt vor, mit dem Geld des alten Mannes zu spekulieren, ohne dass er es weiß, aber auch ohne dass es ihm schaden würde – ein moralisches Problem eigenen Zuschnitts. Im letzten Drittel folgt, persönlicher und anekdotischer gefärbt und weniger apodiktisch, ein „Zweites Tagebuch“ mit „milden Ansichten“ – als Folge von Anyas Einfluss.

Die angloamerikanische Literaturkritik indes hat sich den Kopf zerbrochen, in welchem Maß J. M. Coetzee mit den Ansichten des fiktiven Romanciers JC übereinstimmt. Doch es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich Coetzee sogar in der plattesten kulturkonservativen Bemerkung außerhalb seines persönlichen Terrains bewegt. Nur muss man ihm zugleich die ironische Freiheit gewähren, mit der sich jeder zuweilen sagt: Ich kann doch mit mir nicht immer einer Meinung sein. Gemeint ist nicht Wankelmut oder Prinzipienlosigkeit, sondern die Fähigkeit, zu sich in Distanz zu treten.

Gemeint ist mit dieser Freiheit auch die Erkenntnis, dass sich nicht alles immer in allen Formen darstellen lässt. Es gibt eine Wahrheit, die nur in Geschichten existiert, und es gibt eine, die sich in falsifizierbare Aussagen fassen lässt. Beide Wahrheiten sind nur begrenzt ineinander konvertierbar. Coetzee macht sinnfällig, dass wir in beiden Welten zu Hause sind – und zu Hause sein müssen. Auch das ist aber nur ein Aspekt dieses bewundernswerten Buches. Außerdem schlummert in ihm, wieder in der Überlagerung von Reflektieren und Erzählen, eine Abhandlung über das irritierende Altern selbst gut begründeter Ansichten – und letztlich ein Diskurs über Leben und Sterben. Über das, was als subjektiver Bewusstseinsinhalt untergeht, und was über den Tod hinaus von jemandes Denken vermittelbar bleibt.

„Wenn man mich drängen würde“, gesteht JC einmal, „meine politische Denkweise mit einem Etikett zu versehen, würde ich sie pessimistisch-anarchistischen Quietismus nennen, oder anarchistisch-quietistischen Pessimismus oder pessimistisch-quietistischen Anarchismus: Anarchismus, weil die Erfahrung mir sagt, was in der Politik schlecht ist, ist die Macht selbst; Quietismus, weil ich meine Zweifel am Vorhaben der Weltveränderung habe, einem Vorhaben, das mit dem Streben nach Macht infiziert ist; und Pessimismus, weil ich bezweifle, dass die Dinge grundlegend geändert werden können.“

Niemand ist verpflichtet, sich dieser Denkweise anzuschließen. Ja es gibt gewichtige Gegenstimmen; Coetzee selbst spielt mit dem Zweifel, indem er JC auf dem Umweg über Anya eine „allzu optimistische Sicht auf die menschliche Natur“ ankreidet. Doch unter JCs ausdrücklich antihobbesianischen und antimachiavellianischen Voraussetzungen besitzt sie eine unbestechliche Logik.

Antihobbesianisch sind seine Ansichten dadurch, dass er Thomas Hobbes’ „Prädestinationslehre“ ablehnt, derzufolge der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, ein Naturzustand, aus dem ihn angeblich erst der Staat erlöst. „Der Wolf ist kein Feind seiner Artgenossen“, wendet JC ein: „Lupus lupo lupus wäre eine Diffamierung.“ Antimachiavellianisch sind sie, indem sie die „Notwendigkeit“ zurückweisen, mit der Niccolò Machiavelli in seiner Abhandlung „Il Principe – Der Fürst“ der Staatsräson den Vorrang gegenüber abstrakten Moralerwägungen einräumt.

Dass sich aus dieser Polyphonie JCs anfangs unverrückbare und später nicht mehr so unverrückbare Ansichten als führende Stimme erheben, liegt nicht nur am Platz, den sie im Verhältnis beanspruchen. Nur wo Schreiben sich als Einspruch gegen das blinde, sich selbst organisierende Funktionieren der Welt versteht, erfüllt es seinen Sinn. Es gibt, so muss man J. M. Coetzees irisierendes, unerschöpfliches Textgewebe verstehen, kein Erzählen ohne Moral. Es gibt allenfalls ein unmoralisches Erzählen.

J. M. Coetzee: Tagebuch eines schlimmen Jahres. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 236 Seiten, 19,90 Euro.

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