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Jan Böttcher: Scham kennt keine Grenzen

Nachrichten aus dem Sperrgebiet: Jan Böttchers angenehm altmodischer Wenderoman "Nachglühen“.

Der eine hat es mit den Wörtern, der andere mit den Zahlen. Verschlossen und schweigsam sind beide. Denn sie kommen aus einem Landstrich, der wortkarge Menschen hervorbringt. Als sich Jens Lewin und Jo Brüggemann, die für kurze Zeit so etwas wie Freunde gewesen sind, nach rund neunzehn Jahren in ihrem Heimatdorf wieder begegnen, haben sie sich nichts zu sagen. Dass es da eine Menge gäbe, worüber sie sprechen könnten, erfährt der Leser erst nach und nach.

Auch das dritte Buch des 1973 in Lüneburg geborenen Jan Böttcher (nach „Lina oder: Das kalte Moor“ und „Geld oder Leben“) ist eine Provinzgeschichte. Das ist bei einem Autor, der seit Jahren in Berlin lebt und als Sänger der Band „Herr Nilsson“ einen gewissen Kultstatus hat, ziemlich erstaunlich. Aber Jan Böttcher verfährt nicht nach bewährtem Schema, die eigene Jugend in der Provinz als Startrampe der Großstadtkarriere zu glorifizieren. Er macht was anderes daraus. Er benützt die Kenntnis seiner Herkunftsregion und weitet sie ein kleines Stück aus: bis ans andere Ufer der Elbe, also bis dorthin, wo einmal die DDR war.

Er siedelt seine Geschichte im fiktiven Dörfchen Stolpau an, das er ins real existierende Amt Neuhaus legt, eine Gemeinde, die nach der Wende zu Niedersachsen und nicht zu Mecklenburg-Vorpommern gehören wollte. Sie liegt im ehemaligen Sperrgebiet, in dem nur Leute wohnen durften, die als zuverlässige Staatsbürger der DDR galten. Die Elbe, die früher die Grenze bildete, ist an dieser Stelle rund 250 Meter breit. Nur mit einer Fähre kommt man ohne Umweg von Ost nach West. Für das, was Jan Böttcher mit seiner Geschichte verfolgt, ist diese Lage ideal. Denn „Nachglühen“ erzählt von den Nachwirkungen eines Grenzverlaufs, der als Landesgrenze längst aufgehoben ist, in den Köpfen der Bewohner aber fortexistiert und an der Elbe topografisch noch sichtbar ist. In Berlin könnte man diese Geschichte nicht mehr verorten.

Eigentlich haben Jo und Jens ihr Heimatdorf schon lange verlassen. Jo Brüggemann ist Kommissar in Hamburg. Wegen übertriebener Härte auf einen Funkerposten abgeschoben, lebt er ziemlich isoliert und wird ständig von seinem Vater zurück nach Stolpau zitiert. Seit 12 Jahren liegt Fritz, der Großvater, krank im Bett und muss versorgt werden. Die Mutter hat sich nach der Wende aus dem Staub gemacht. Der Vater, der früher als „Freiwilliger Helfer der Grenztruppen“ gespitzelt hat, beobachtet und fotografiert wie ein Besessener die heimische Fauna. Er plant einen Vogelatlas. Auch dabei soll ihm der Sohn helfen. So wie im Hause Brüggemann ein Triumvirat gedemütigter Männer waltet, gruppiert Jan Böttcher um Jens Lewin eine gut funktionierende Familie, angeführt von einer aufrechten und liebevollen Mutter.

Mit 56 Jahren hatte Martha ihren Traum wahr gemacht und gleich nach der Wende ihre alte Kneipe, den „Deichkrug“, wiedereröffnet. Nun aber, im Jahr 2006, hat der Koch gekündigt. Es ist Anna, seit zwei Jahren mit Jens verheiratet und im Westen aufgewachsen, die meint, es wäre an der Zeit, die Schwiegereltern zu entlasten. Nach ersten Frustrationen in der Berufswelt, stürzt sich die Kulturwissenschaftlerin mit der Abenteuerlust einer „Nebenfach-Ethnologin“ auf ihre neue Aufgabe. Jens zieht mit, schmeißt den Posten als Zeitungsredakteur in Göttingen, renoviert und werkelt wie ein Berserker. Aber kaum ist aus der vermufften Kneipe ein schöner, offener Raum geworden, versinkt er in Lethargie und wird immer verschlossener. Die Vergangenheit holt ihn ein.

Anna ist zunächst fasziniert vom Dorfleben und dem wortkargen Menschenschlag, der genau ihren Erwartungen entspricht. Selbst der etwas unheimliche Jo erregt ihr Interesse. Was steckt dahinter, dass sie ihm jede Information über das Dorf aus der Nase ziehen muss, während sein Wortschwall kaum zu bremsen ist, sobald er von Petr Jablonski spricht, einem Fotografen, der zu DDR-Zeiten ein Außenseiter in Stolpau war und mittlerweile berühmt ist? Martha, Anna und Laura, eine junge Polin, die als Pflegerin für die Brüggemanns und als Kellnerin für die Lewins arbeitet, schmeißen den Laden. Die Männer aber sind mit etwas anderem beschäftigt: mit alten Geschichten, mit politischen Vorurteilen, mit Bier, Zigaretten, Gras, mit Skatrunden, Büchern, verwegenen Träumen. Anna wünscht sich Kinder, Jens möchte keine.

Jan Böttcher erzählt seine Geschichte unprätentiös, mit ruhigem Atem, fast ein wenig altmodisch. Was aber ist sein Thema? Geht es wirklich allein um die Nachwirkungen der DDR? Die kleine Enklave, die er sich dort an der Elbe errichtet hat, ist zwar ein gut recherchiertes Soziotop, aber sie bildet eher den Hintergrund als den Hauptzweck der Versuchsanordnung. Es geht vor allem um Isolation, um Erfahrungen, die so demütigend sind, dass sie nicht mitgeteilt werden können – und die gerade deshalb ihre fatale Wirkung entfalten.

Dass der Autor am Schluss seines eher schlicht erzählten Romans ausgerechnet mit dem Zaunpfahl Kafka winkt, hat damit zu tun. „Es war, als sollte die Scham ihn überleben“ – der letzte Satz aus „Der Prozeß“ wird zwar nicht zitiert, schwebt aber wie ein Menetekel über der Szenerie. Als der Leser erfährt, welches Geheimnis Jo und Jens verbindet, ist das nur die halbe Wahrheit. Den Verrat eines Freundes, der ihm zwei Jahre Haft eingebracht hat, hätte Jens seiner Frau erzählen können. Nicht aber den obszönen Wortlaut dessen, was die beiden per Funk verbreitet haben.

Es ist das „Nachglühen“ einer Scham, das Jens vor Anna geheim hält, einer typisch männlichen, kafkaesken Form der Scham: die falschen Worte in den Mund genommen zu haben. Etwas von dieser Scham ist auch dem Autor anzumerken. So beeindruckend es ist, wie einfühlsam er sich in ein fremdes Land hinein imaginiert, bleibt der Ton seines Romans doch merkwürdig verhalten. Was da schwelt, scheint eher zu glimmen als zu glühen.

Jan Böttcher:

Nachglühen. Roman. Verlag Rowohlt

Berlin, Berlin 2008.

237 Seiten, 19,90 €.

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