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Jerzy Pilch: Das jüngere Ego

Ab nach Warschau! Jerzy Pilch erfindet sich einen Sohn – und einen furiosen Plauderroman.

Auf Seite 14 findet sich ein ebenso erfrischendes wie verblüffendes Geständnis: „Ich hoffe, dass meine streberhaft-priesterliche Art des Erzählens für euch nicht allzu anstrengend ist. Ich fasse mich schon kurz, aber kürzer geht nun mal nicht.“ Nur: Bis dahin hat der Ich-Erzähler schon mitgeteilt, dass er Patryk Wojewoda heißt, 1976 geboren wurde, mit seinen Klassenkameraden Oliver, Esmeralda und Nicoll das Quartett der für osteuropäische Verhältnisse abgedrehtesten Vornamen der Schule bildete, wofür die Armen vom Religionslehrer aber so was von abgekanzelt wurden, wobei im Falle Patryks der Hollywood-Beau Patrick Swayze, geboren wie Patryks Vater am 18. August 1952, als Vornamen-Inspirator gar nicht infrage gekommen war; mit anderen Worten: Patryk will, auch um aus dem Vornamenschlamassel herauszukommen, dringend Papst werden, aber das verrät er erst zwei Seiten später.

Bis Seite 158 passiert nicht viel mehr, als dass Patryk, mitterweile Jurastudent im Warschau des Jahres 2000, einem Mann, den er mit reichlich eigentümlichen Mitteln bestohlen hat, auf reichlich eigentümlichen Wegen eben jenes Geld zurückgibt. Aber einstweilen hat der Autor, in Polen einer der Großen und hier nahezu unbekannt, dem Leser unwiderstehlich entzückend an die Backe palavert, dass in Patryks Familie seit Opa Jan Nepomuks Zeiten, war es die Ära des frühen Gierek oder des späten Gomulka oder umgekehrt, der Glaubenssatz gilt „Wer kein Geld hat, den liebt der Herrgott nicht“; dass im Warschauer Hauptbahnhof russische Penner die Kioskverkäuferinnen mit den abenteuerlichsten Herzschmerzgeschichten betören, nur um mit dem allerneuesten „Playboy“ stiften zu gehen; dass Patryks Vater, vom miesen Theaterrezensenten zum Hersteller exklusiver Lampenschirme auf- und, schwupps, zum Taxifahrer abgestiegen, sich immerhin bei Opas Fünfundsiebzigstem als fesselnder Festredner auf Video verewigte; ja, und dass es da eine gewisse Konstancja gibt oder auch gab oder doch noch gibt in Patryks Leben, eine „ordentlich durchgeknallte Intellektuelle“ übrigens, oh ja, Konstancja.

Wie jetzt? Was soll man von diesem Buch halten? Alles oder alles?

Zuerst dies: Dass das nahe, ferne Polen literarisch nicht nur großartig zergrübelte Düsterseelenerkundungen aus einer ganz dem Suff ergebenen Weltprovinz sowie entzückendes Retro-Schwankmaterial mit den Lebensnöten jonglierender Helden bietet, sondern äußerst hippe, nur scheinbar an der Oberfläche entlangsurfende Großstadtliteratur. Und dass Warschau kein schmuddeldüsterer Vorort von Nowosibirsk ist, sondern eine Metropole mitten in Europa, irgendwas zwischen Wien und Wuppertal, nur eben an der Weichsel. Und dass Jerzy Pilch, geboren exakt acht Tage vor Patryks Vater und Patrick Swayze, brotberuflich Feuilletonist bei der „Polityka“, ein verteufelt fabelhafter Fabulierer ist, einer, der seine Leser unterhakt und abschleppt nach Warschau und sonstwo – so schnell, da können die sich nicht mal mehr beim Strandnachbarn abmelden.

Nur: Eine ordentliche Geschichte, die kriegen sie nicht. Zwar mit „Prolog“ und „Epilog“, aber das sind Finten. Gut, es gibt Patryk, das hilft. Patryk könnte auch als Virtualsohn des Jerzy Pilch durchgehen, als sein jüngeres Ego, in einer Welt, in der ein Anfangfünfziger – das Original erschien 2004 – sich als lebens- und liebessüchtiger Student wiedererfindet, auch endlich locker mitheulend mit dem „wölfischen polnischen Kapitalismus“; ein Kerl zudem, der sich – die famose Übersetzung stammt von der Selberdichterin Paulina Schulz – in einer „krassen“ Erlebniswelt bewegt, in der man „anknallt“, „aufschlägt“, „flachlegt“ und auch mal modisch nichtreflexiv „entspannt“. Meist aber rechnet Patryk ab: weniger mit der Großelterngeneration, die er anfallsweise zärtlich liebt, zumal sie so unrettbar vergeht, wohl aber mit den lauen Lavierer-Vätern. Stellvertretend: dem Vater. Was für eine lächerliche Erscheinung, dieser Paps, der immer wieder aus der rotten Hinterwäldler-Ehe ausbüchst zu den ukrainischen Hauptstadtnutten und irgendwann im Puff im zwölften Stock, zu schlapp zum Sprung, im weit geöffneten Fenster steht.

So gesehen, funktioniert der Roman am besten als meist ironisches, mitunter sarkastisches, über die Bande gespieltes Selbstporträt – und seine stärkste Symbolszene hätte locker zum entwicklungsfähigen Plot getaugt. Mit der Gottesgabe ausgestattet, aus dem Geldautomaten-Gepiepse exakt die Geheimzahlen herauszuhören, straft Patryk einen schlampig daherlaufenden mittelälteren Mann, der die Karte hat stecken lassen, eben wegen Totalschlamperei mit der Abbuchung von 3000 Zloty. Weil er ihm dann aber reuig Geld nebst Begleitschreiben ausgerechnet über die Bank zurücksendet, kriegt er Besuch von der Polizei, die seine paranormalen Lauscherqualitäten auch anderweitig nützlich findet. Nur: Es wird kein Krimi daraus, kein Stadtporträt, kein Gesellschaftspanorama, auch nicht wirklich die Konstancja-Lovestory. Es ist von alledem ein bisschen und ein bisschen von allem nichts. Und dass Jerzy Pilchs rustikale Ironie, nur unwesentlich durch Rollenprosa getarnt, spät und plötzlich in Misanthropie umschlägt, in die arg lieblose Entsorgung manchen Personals auch, macht die Sache nicht besser.

Aber egal: Dieser durch seine Ideen und Kapitelchen vagabundierende Roman ist zuallererst ein Vergnügen, ganz gegen seinen Originaltitel „Miasto utrapienia“ (Die Stadt der Trauer). Dass der deutsche Verlag selbigen flugs neu erfand, um mit den allerheutigsten Leiden eines jungen W. und seinem Jugendsprech zu locken – warum nicht?



Jerzy Pilch:

Die Talente und

Obsessionen des

Patryk W.

Roman. Aus dem

Polnischen von

Paulina Schulz.

DTV München 2008,

396 Seiten, 14.90 €

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