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Jurjews Klassiker: Ein Gespräch über Leben und Tod

Oleg Jurjew über die Entstehung von Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“: In seinem Roman weiß Pasternak tatsächlich nicht recht, was ihm besser gefällt: das neue kommunistische oder das alte zaristische Russland.

Im Mai 1934 klingelte bei Boris Pasternak das Telefon. „Hier Stalin. Du setzt dich für deinen Freund Mandelstam ein, stimmt’s?“, fragte die unverwechselbare Stimme. Dass er geduzt wurde, verriet der Lyriker erst viel später. Pasternak, ein in der sowjetischen Hierarchie hochgestellter Autor, versuchte tatsächlich, das Schicksal Mandelstams zu mildern, doch antwortete er (in wahrscheinlichster Zusammenfassung) etwa so: „Es gab nie eine Freundschaft zwischen uns. Eher im Gegenteil. Seine Gesellschaft war mir immer lästig. Mit Ihnen zu sprechen, war jedoch immer mein größter Wunsch!“ – „Wir alten Bolschewiken verleugnen unsere Freunde nie. Worüber wolltest du denn mit mir sprechen?“ – „Über das Leben und den Tod“, antwortete Pasternak. Stalin legte auf.

1957, also vor fünfzig Jahren, erschien „Doktor Schiwago“. In Mailand, auf Italienisch. Heute schlägt eine Hypothese Wellen, dass die ein Jahr später erschienene russische Ausgabe, eine Voraussetzung für den Nobelpreis, mithilfe und auf Initiative der CIA zustande gekommen sei. Für die von der CIA geplante Kluft zwischen den sowjetischen intellektuellen Eliten und dem Staat brauchte man Helden. Und Märtyrer. Der Nobelpreis von 1958 brachte Pasternak Weltruhm ein und machte seiner Beziehung zum sowjetischen Literaturleben endgültig den Garaus. Die Folge war sein verfrühter Tod, so der Sohn des Dichters, Jewgenij, als Kommentar zur CIA-Geschichte.

Pasternak ist zweifelsohne einer der größten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Aber „Doktor Schiwago“ ist ein schlechtes Buch. Nicht nur, weil es einer veralteten Romangattung angehört – dem Familienroman des 19. Jahrhunderts, der unter Einfluss von Eugéne Sue und Maxim Gorki zu einer Mischung aus Groschenheft und Philosophielehrbuch verkommen ist. Selbst nach den Regeln dieser Literatur ist er unsicher geschrieben und komponiert. Bereits bei Hausvorlesungen staunten alte Freunde Pasternaks darüber. Aber dieses Buch war nicht für sie geschrieben.

Ich glaube, „Doktor Schiwago“ ist eine „Fortsetzung mit anderen Mitteln“ jenes abgebrochenen Telefonats. Pasternak hat es in seinem Bewusstsein so viele Male wiederholt und weitergeführt, dass es letztendlich zu einem Roman auswuchs. An „Doktor Schiwago“ arbeitete er von 1945 bis 1955; seit ungefähr 1947 bis zum Tod Stalins, im März 1953, führte die UdSSR einen „Kampf gegen den Kosmopolitismus“, was in der Praxis ein Versuch war, anstelle des „kommunistischen Internationalismus“ eine großrussische imperiale Ideologie samt antisemitischer Propaganda zu installieren. In seinem Roman weiß Pasternak tatsächlich nicht recht, was ihm besser gefällt: das neue kommunistische oder das alte zaristische Russland.

Auch Stalin wusste das zu dieser Zeit nicht mehr. Nur so viel wusste der Generalissimo, dass ihm die Juden nicht gut gefielen. Und dies ist auch die einzige feste geschichtsphilosophische Idee des Romans: „Warum hatten die Wortführer dieses Volkes, das ungewiss wofür kämpft und ungewiss wofür gepeinigt wird, dieses Volk nicht aufgelöst?“, fragt Schiwagos Freund, der konvertierte Jude Gordon, die Spuren eines Pogroms betrachtend – und Pasternak fragt mit. Nach Auschwitz und vor dem Hintergrund der antijüdischen Hysterie in der Sowjetunion bedeutete das: „Der Jud ist selber schuld.“ Ja, und auch Mandelstam war selber schuld. Pasternak hatte ihm doch über sein verfluchtes Stalin-Epigramm gesagt: „Als Jude dürfen Sie so nicht schreiben. Ich habe das nicht gehört.“

Den Parteibonzen und Schriftstellerkollegen wäre es nicht in den Sinn gekommen, den alternden modernistischen Lyriker einen Stalinisten zu nennen. Deshalb nannten sie das Buch „antisowjetisch“. Das war es auch, allerdings sozusagen von rechts. Pasternak hatte gewusst, dass es ohnehin zu spät war – sein imaginärer Gesprächspartner war bereits gegangen. Chruschtschow leitete nach Stalins Tod „die Rückkehr zum Leninismus“ ein. So kam der (damals stalinistisch-) kommunistische Verleger Feltrinelli wie gerufen (tatsächlich). Und die CIA (wahrscheinlich). Und der Nobelpreis (anstatt des Stalinpreises). Und der Tod. Und als Letztes kam Hollywood. Wie immer.

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