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Jurjews KLASSIKER: Füchse, Frauen und Gespenster

Auf meinem Nachhauseweg von der Hochschule für Wirtschaft und Finanzen in Leningrad (den Newskij-Prospekt entlang, mit einem kurzen Exkurs in den Litejnyj-Prospekt, seit dem 19. Jahrhundert die Straße der Antiquariate) lagen 10 Buchhandlungen.

Auf meinem Nachhauseweg von der Hochschule für Wirtschaft und Finanzen in Leningrad (den Newskij-Prospekt entlang, mit einem kurzen Exkurs in den Litejnyj-Prospekt, seit dem 19. Jahrhundert die Straße der Antiquariate) lagen 10 Buchhandlungen. Ich suchte sie jeden Tag alle auf. Das einzige, womit ich das vergleichen kann, ist das Pilze-Sammeln: Man geht jeden Tag hin und prüft unter diesem Busch und jenem Baum. Aber es kann gut sein, dass es an keiner der „todsicheren Stellen“ Pilze gibt. Bis heute fühle ich mich im Wald wie auf dem Newskij-Prospekt.

Etwas Vernünftiges war eher bei den Antiquaren zu finden. In jener Zeit des Buchhungers, der erst nach dem Ende der Sowjetunion gestillt war (dafür aber mehr als gründlich!), waren alle Neuerscheinungen, die interessant schienen, sofort „ausverkauft“: Sie wurden entweder den Buchspekulanten oder den Freunden und Verwandten der Buchhändler zuteil. Im Antiquariat konnte aber jedes Buch auftauchen, man musste nur regelmäßig vorbeikommen.

Ich entsinne mich des Augenblicks: Ich stehe in der Antiquariats-Abteilung im „Laden des Schriftstellers“ (es gehörte dem Litfond, der die materiellen Güter des Schriftstellerverbandes verwaltete) und betrachte ein schwarzes Buch mit einer chinesischen Zeichnung, das im Regal hinter der Verkäuferin steht. Bitte, möchte ich sagen, doch eine gepflegte Stimme kommt mir zuvor: Fräulein, sind in diesem Pu Sung-ling die selben Geschichten drinnen, wie in dem orangefarbenen? – Ja, ja, die selben, sage ich, noch bevor die Verkäuferin sich dazu äußert. Und blicke zurück: Ein älterer Herr, der allem Anschein nach ebenfalls seinen täglichen Waldgang Newskij-Prospekt verrichtet, lacht: Wollen Sie es? Nehmen, nehmen Sie''s nur, ich habe noch das orangenfarbene.

Heute noch kann ich mich an jenes Gefühl erinnern: Glück mit etwas Scham als Beilage. Pu Sung-ling! Ist das nicht mit das Schönste, das in der ganzen Weltliteratur existiert? Der chinesische Erzähler aus dem 17. Jahrhundert (1640-1715) wurde zu einem geheimen russischen Klassiker des 20. Jahrhunderts, dank dem großen Chinaforscher und Übersetzer Wassilij Alexejew (1881-1951). Seine Übersetzungen haben mit einer eigenen Erzählsprache eine neue Mythen- und Bilderwelt geöffnet, die in der russischen Dichtung bis heute zu spüren ist. Pu Sung-ling schrieb komische und zugleich lyrische Geschichten aus der Welt der armen Studenten und der Zauberer, Dämonen und Räuber.

In erster Linie wurden seine Fuchsgeschichten berühmt. Dem Volksglauben nach waren die Füchse Wesen, die sich in schöne Frauen verwandelten und Menschen verführten. Meistens um sie zu vernichten, aber manchmal aus richtiger Liebe. Klingt sehr volkstümlich, war es aber nicht. Pu Sung-ling, der ewige Student, der bis zu seinem 72. Lebensjahr keine Staatsprüfung bestanden hatte und erst dann ein niedriges Amt bekam (nach altchinesischem Verständnis also ein Versager ), ein Teehausbesitzer und Nachhilfelehrer, schrieb seine „einfachen“ Märchen in der „hohen Sprache“, in der fast jedes Wort ein Zitat aus der klassischen Literatur war. Seine ganze bei den Examina durchgefallene Gelehrtheit steckte in diesen Novellen. Man könnte man sich das ungefähr so veranschaulichen, dass man sich einen Autor vorstellt, der Fantasy- und Erotikstorys auf Latein schreibt und mit Zitaten von Horaz und Ovid und spickt.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Pu Sung-ling in der nichtchinesischen Welt entdeckt. Franz Kafka und Martin Buber waren Verehrer seiner Geschichten und übersetzten einige von ihnen. Es erschien sogar eine fünfbändige Gesamtausgabe von „Liao-chai chih-i“, den „Komischen Erzählungen aus der Gelehrtenstube“ (Verlag Die Waage, Zürich, 1987-1992, übersetzt von Gottfried Rösel), aber der alte Pu ist immer noch kein geheimer deutscher Klassiker. Sogar die wunderschöne „Chinese Ghost Story“-Filmtrilogie (1987 - 1991), die gewiss die Ironie und den Anspielungsreichtum der Vorlage eingebüßt hatte, machte diesen Namen nicht zu einer Selbstverständlichkeit (wie Shakespeare, Goethe oder Cervantes). Also, versuchen wir es noch einmal: Pu Sung-ling!

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