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Jurjews KLASSIKER Jurjews KLASSIKER: Buch ohne Rücken

Oleg Jurjew entdeckt den ersten allwissenden Erzähler

Das letzte Mal habe ich dieses Buch vor ein paar Wochen gelesen: „The History of Tom Jones, a Foundling“ von Henry Fielding (1707–1754). Das erste Mal war vor vierzig Jahren, in der ersten Phase meines „Alles, was zu Hause so rumsteht“-Lesens, ein überdicker himmelblauer Band ohne Buchrücken (beschämend, aber wahr: Dieser ist erst durch meine letzte Lektüre abgegangen, vor zwei Wochen: Wahrscheinlich war ich wieder so aufgeregt!).

Was hat mich als Kind an dem 1749 erschienenen Roman aus fremdem Leben und voll höchst eloquenter Exkurse so fasziniert? Es war wohl diese Milde, diese Langmut, die der Erzähler für seinen Helden hat, einen Jüngling mit gutem Herzen, aber nicht ebensolchem Benehmen. Dessen Schwächen und Sünden und die daraus resultierenden Vergnügen, die man als Leser mit ihm teilt, werden nicht konsequent und in letzter Konsequenz gar nicht bestraft. Er bekommt den Hauptpreis: die schöne Sophie und das schöne Leben auf dem schönen Gut. Als junger Mensch fühlst du dich mit all deinen Schwächen und Sünden irgendwie ... beruhigt. Und lustig zu lesen war es!

Der in einer verarmten adligen Familie in Somerset geborene Fielding hatte in seiner Jugend selbst Unannehmlichkeiten mit dem Gesetz, was wahrscheinlich ein Grund für seine spätere Nachsicht mit Jugendsünden ist. Er flog nach London und schlug sich als satirischer Theaterautor durch, und zwar so erfolgreich, dass eines seiner Stücke vermutlich zum Anlass für den Theatrical Licensing Act der Walpole-Regierung wurde. Wegen dieses Gesetzes verließ er das Theater und wurde zum Friedensrichter. Vielleicht hing seine Milde auch mit diesem Beruf zusammen: Es ging ihm im Gericht und in seinen Romanen darum, dass seine „Klientel“ sich versöhnt, und nicht um die Sühnung jedes Fehltritts. Nachdem seine politischen Freunde (er war ein leidenschaftlicher Tory und Antikatholik) die Regierung gebildet hatten, wurde er 1749 The Chief Magistrat of London und gründete die erste Polizeieinheit Londons – die Bow Street Runners.

Aber das Wichtigste geschah bereits 1741: Gereizt vom Erfolg von Richardsons Pamela, begann Fielding, Romane zu schreiben. Was fasziniert mich aber heute, als Erwachsenen und selbst Prosaautor, an diesem himmelblauen Buch ohne Rücken? Vielleicht das komplizierte System von sich öffnenden und wieder schließenden Zusammenhängen: Verwandschaften, Bekanntschaften, Zufallsbegegnungen – eine heiter klippende Maschine mit vielen teleskopischen Gliedern. Ein Roman-Transformer, der sein Äußeres jeden Augenblick ändern kann. Klick, klick: Diese Dame ist nicht deine Mutter, lieber Tom, dieser Herr ist jedoch dein Onkel.

Fielding gilt als erster „allwissender und allmächtiger Erzähler“, als Erfinder dieser Erzählposition, die später Leo Tolstoi aufgriff, um eigene Naturgesetze aufzustellen: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“ Warum eigentlich? Weil er es sagt. Henry Fielding mochte Friedensrichter für seine Helden sein, Graf Tolstoi spielte für sie den Herrgott.

In gewissem Sinne erschließt Fielding für die Prosa auch die Methode, die James Joyce verwendet, um das unwichtige Leben unwichtiger Menschen in seiner Unwichtigkeit bloßzustellen und gleichzeitig doch etwas wichtiger zu machen: Man benutzt die Mythen und die Dichtung der klassischen Antike. Henry Fielding machte das gerne, eine Spelunkenkeilerei konnte er wie eine Schlacht bei Homer beschreiben, oder eher wie bei Alexander Pope. Angenehm-ironisch. Fielding hatte in erster Linie humoristische Absichten, aber mit der Unwichtigkeit und Durchschnittlichkeit seiner Helden „aus dem wirklichen Leben“ hatte auch er schwer zu kämpfen.

So gesehen hat der Richter, der 47-jährig gestorben ist und dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 300. Mal jährt, nicht nur die Londoner Polizei gegründet. In diesem himmelblauen Buch ohne Rücken und in den anderen Büchern hat er auch Tolstoi und Joyce gegründet, und auch uns alle. Ich werde den Buchrücken ankleben lassen, das ist doch das Mindeste, was ich ihm schulde!

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