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Jurjews KLASSIKER: Kosmische Seifenoper

Oleg Jurjew über den unenglischsten englischen Dichter der letzten 400 Jahre

Hat schon mal jemand bemerkt, dass die größten, die „grundlegendsten“, die „Nationaldichter“ eines Volkes oft die „untypischsten“ sind? Puschkin mit seinem kalten Glanz und scharfen Verstand ist vielleicht der untypischste russische Dichter und überhaupt Russe aller Zeiten. Das veranlasste Gogol, ihn „den russischen Menschen“ zu nennen, „wie er in 200 Jahren sein wird“. Bald wäre das fällig. Der untypischste deutsche Dichter ist Goethe, der doch so wenig vom „Faust’schen Menschen“ an sich hatte. In der englischen Literaturgeschichte gehört die Stelle des unenglischsten Dichters John Milton (1608–1674). Besonders wenn wir ihn mit seinen politischen Gegenspielern vergleichen: mit den Cavalier poets, den königstreuen Poeten des englischen Bürgerkriegs. All die Davenants, Wallers oder Sucklings, lebensfreudige Kreaturen, immer hinter den Frauen, dem Wein, dem Ruhm her – Pfauenmenschen! Und wunderbare Lyriker dazu.

Der schöne John Milton mutete zwischen ihnen wie ein Alien an. Der in London geborene Sohn eines reichen Notars studierte unermüdlich, um Dichter zu werden – in Cambridge (1625–32), privat auf dem väterlichen Landgut (1632–38), auf einer Bildungsreise durch Frankreich und Italien. Als er in das vom Krieg zwischen dem König und dem Parlament erschütterte England zurückkehrte, schlug er sich auf die Seite des Puritanismus und des Parlaments. Er wurde zum Propaganda-Schriftsteller, zum Übersetzer von offiziellen Dokumenten ins Lateinische. Zum Dichter wurde er erst später wieder. Erblindet, verarmt, einer Gefängnis-, wenn nicht gar der Todesstrafe nur durch Andrew Marvells Vorsprache bei Charles II. entgangen, dem Sohn von Charles I., dessen Hinrichtung Milton in „The tenure of kings and magistrates“ (1649) bedingungslos gerechtfertigt hatte.

Entlassen aus der Haft schrieb Milton seine langen Dichtungen, in erster Linie „Paradise Lost“ (1667) – über die verlorene Schlacht der abtrünnigen Engel mit den Himmlischen Heerscharen, über den Sündenfall des Menschengeschlechts. Der verbitterte blinde Mann aber, zweifacher Witwer und Vater zweier ihn hassender Töchter, meinte dabei auch England, das sich so leicht verführen ließ und das republikanisch-puritanische Cromwell-Paradies aufgegeben hatte. Dumm war nur, dass der Satan ihm so lebendig und bildhaft, so nachvollziehbar und fast sympathisch gelang, dass es wirkt, als hätte der alte Rabe in sich gerne auch etwas von einem Pfau. Heute liest man dieses Epos als gigantische kosmische Seifenoper, eine Art Ur-Fantasy, einen „Herr der Ringe“ des 17. Jahrhunderts – zwar in sehr schönen, starken englischen Versen, aber so humorlos, dass es fast lächerlich wirkt. Unbritisch eben. Ohne Hobbits.

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