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Köhlmeier-Roman "Abendland": Einer für alle

Michael Köhlmeiers grandioser Roman „Abendland“ erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Es muss verlockend für einen Schriftsteller sein, solcherart zum Schreiben einer Biografie animiert zu werden: „Ich habe gerade Inventur gemacht, und du bist der einzige Mensch von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt.“ Schon weniger verlockend ist es, dabei die eigene Biografie gleich mitschreiben zu müssen. Denn Sebastian Lukasser, der 51-jährige Schriftsteller, dem gerade die Prostata entfernt worden ist, und Carl Jacob Candoris, der 95-jährige Mathematiker, Lebemann, Weltbürger und Jazz-Fan, der sich dem Tode nahe wähnt und sein bewegtes Leben erzählen und in Buchform bündig nacherzählt bekommen will, sie beide verbindet eine Vater-Sohn-ähnliche Beziehung, mit allen An- und Abstoßungskräften, die so eine Beziehung ausmacht, gerade auf Seiten des Jüngeren.

Es sind nicht zuletzt diese Kräfte, aus denen Michael Köhlmeiers breitwandiger, aber grandioser, fast achthundert Seiten und in der engeren Auswahl für den Deutschen Buchpreis stehender Roman „Abendland“ seine Energie bezieht, seinen immerwährenden Antrieb. Und die ihm gleichfalls seine Spannung bis zum Schluss verleihen, da beide Männer sich auf dem Totenbett mit einem Kuss voneinander verabschieden, und seinen Rahmen, der immer mal gesprengt zu werden droht durch die Geschichten und Schicksale zahlreicher anderer Figuren. Denn Köhlmeier, darauf weist der nicht zufällig gewählte Romantitel, lässt Candoris nicht nur sein Leben erzählen, er lässt die gesamte Weltgeschichte durch diesen und auch durch seinen Eckermann hindurchgehen; die Ideen- und Wissensgeschichte des 20. Jahrhunderts, seinen Geist und Ungeist, seine politischen und ideologischen Irrtümer und Abwege, vom Nationalsozialismus über den Stalinismus bis zur RAF und den K-Gruppen der siebziger Jahre.

Candoris ist immer dort, wo historisch Entscheidendes passiert, sei es in verschiedenen Städten Europas, sei es in Los Alamos, Tokio oder Sao Paulo, seine Vita wird von Köhlmeier eng verknüpft mit der realer Figuren. Die berühmte Nonne Edith Stein zum Beispiel, die vom jüdischen Glauben zum Katholizismus konvertiert, von den Nazis in Auschwitz umgebracht und später posthum heiliggesprochen wird, lernt er im Göttingen der zwanziger Jahre kennen. Genauso wie viele große Mathematiker und Physiker, darunter Emmy Noether, bei der er promoviert und der er für einige Monate nach Moskau folgt. Candoris ist einer der Wissenschaftler, der Julius Robert Oppenheimer beim Bau und Ausprobieren der Atombombe hilft, er ist bei den Nürnberger Prozessen dabei, darf sich mit dem für den Tod von Edith Stein verantwortlichen Seyß-Inquart in dessen Zelle unterhalten, und er versucht nach dem Zweiten Weltkrieg wieder etwas von der Schuld abzutragen, die er glaubt mit Nagasaki und Hiroshima auf sich geladen zu haben, in dem er einen jungen japanischen Mathematiker geistig und finanziell fördert.

Dasselbe macht er mit Sebastian Lukassers Vater, Georg Lukasser, der in der Nachkriegszeit „mit seiner Contragitarre das unangefochtene Genie der Wiener Jazzszene“ war und später in den USA mit Chet Baker auf Tour ist. Zusammen mit seiner portugiesischen Frau Margarida nimmt er die Lukassers unter seine Fittiche, Vater, Mutter und ihrem einzigen Sohn Sebastian. Dieser wird schließlich, so wohl er sich lange Zeit in der Gegenwart von Carl und Margarida gefühlt hat, diesen Edelmut, der sich auch noch eine Generation weitererstreckt, in einem anderen Licht sehen: „Wem es an Genie mangelt, um ein großer Dichter, Musiker, Künstler zu werden - oder aber ein großer Mathematiker -, der aber ein Leben lang den Genius so inbrünstig angebetet und unter dem Mangel gelitten hat und sich mit der ihm nicht gewährten Bevorzugung partout nicht abfinden kann, was bleibt dem anderes übrig, als sein Leben selbst zu einem Kunstwerk zu erklären?“.

Immer wieder bemerkt Lukasser, wie Candoris sein Leben im Nachhinein inszeniert: Er ist Gut und Böse im einen, mal Schutzengel, mal Mephisto, mal Raskolnikoff, er verkörpert meist die Vernunft und nur selten das Gefühl, und trotzdem sind seine Handlungen nicht immer nachvollziehbar. Und er erzählt am Ende seines Lebens, im Rollstuhl sitzend und von Knochenschmerzen geplagt, dem nach seiner Operation zunächst impotenten und inkontinenten Ziehsohn und Schriftsteller Lukasser sein Leben nach einem ausgeklügelten Plan,

Dieser Plan ist selbstverständlich auch der Werkplan des fleißigen österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier, der auf dieser langen Romanstrecke alle Erzählfäden in der Hand behält, taktisch klug und nicht unbescheiden: „Er suggerierte dem Zuhörer zunächst, daß es im folgenden nicht um ihn, den Erzähler, sondern um einen anderen gehe, um dann in der Vorgeschichte doch von sich selbst zu erzählen.“ Dieses sagt Lukasser über Candoris, es gilt aber auch für Köhlmeier: Denn Lukassers Lebensgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte par Excellence, ist vermutlich nicht ganz so weit entfernt von der des bislang nur in Österreich bekannten Schriftstellers Michael Köhlmeier. In jedem Fall wird die zunächst primitiv anmutende Romankonstruktion zu einer sehr komplex erscheinenden, in der Geschichten und Ereignisse angedeutet und erst viel später weiter oder gleich von ihrem Ende her erzählt werden, in der es zahlreiche, den Fluss der Erzählung aber nie stauende Zeitsprünge gibt, und innerhalb derer zahlreiche Stimmen sich ausprobieren und jede Nebenfigur einen gebührenden Platz einnimmt.

Glänzen die historischen Episoden oft durch ihre Gelehrsamkeit – wobei sich hier Ausflüge in die Mathematik oder Diskurse über die Schönheit oder den Genius sich so lesen, als sei es das Leichteste der Welt –, so vermag Michael Köhlmeier auch ganz hinreißend-vertrackte Liebesgeschichten zu erzählen: sei es zwischen Sebastian und der Afroamerikanerin Maybelle in den achtziger Jahren in Brooklyn, sei es zwischen Carl und Margarida, die ihn über Jahrzehnte hinweg ganz arglos mit ihrem ersten Ehemann betrügt. Gerade der undurchdringliche, chamäleonhafte Carl bekommt in diesen Passagen viel Glaubwürdigkeit, viel Lebendigkeit – die beiden Male, die er glaubt, entweder einen Mord begangen zu haben, was sich erst sechs Jahre später als Trugschluss herausstellt, oder er einen Mord plant, wovon er doch wieder abkommt, haben mit den zwei wichtigsten Frauen in seinem Leben zu tun, seiner Lehrmeisterin Emmy Noether und Margarida.

Es ließe sich noch viel mehr aus diesem Roman erzählen. Es ließe sich gar einwenden, dass gerade die kleine Geschichte des Jazz etwas Mechanisches, Aufzählendes hat (Namen, Instrumente, Namen, Instrumente usw.) und die Faszination für diese Musik nicht wirklich zu transportieren in der Lage ist; und auch, dass man immer mal einen kleinen Anlauf braucht, um sich an einen neuen Erzählstrang zu begeben, um noch eine Lebensgeschichte mehr zu hören, um sich wieder einen erzählerischen Umweg zu verfolgen, bevor es aus Carl Jacob Candoris endgültig verzweifelt und wie ein Mantra herausbricht: „Das ist nicht gerecht. Es ist nicht gerecht. Es ist nicht gerecht“. Am Ende aber fühlt man sich vor allem: beglückt und bereichert, und das ist ein Gefühl, das man nach der Lektüre eines deutschsprachigen Romans nicht oft hat.

Michael Köhlmeier: Abendland. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2007, 776 Seiten., 24, 90 €

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