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© bpk/Voller Ernst

Kommunismus: Träumer, Mörder, Ignoranten

Nach dem Scheitern des Realsozialismus: David Priestlands Weltgeschichte des Kommunismus

Stalin verordnete seinen Untertanen die Geschichte der bolschewistischen Partei als „kurzen Lehrgang“. Für die Geschichte des Weltkommunismus muss sich die Nachwelt schon etwas mehr Zeit nehmen: Knapp 800 Seiten braucht der Oxforder Historiker David Priestland – übrigens ein ausgewiesener Kenner des Stalinismus –, um sie einschließlich ihrer Vorgeschichte seit der Französischen Revolution im Zusammenhang darzustellen. Denn auch ihr Zusammenhang wäre mit einem kurzen Lehrgang zur Geschichte der Kommunistischen Internationalen nicht ausreichend erfasst. Als Stalins Instrument hat die Internationale nie die Gesamtheit der kommunistischen Weltbewegung repräsentiert, und auch nach ihrer Auflösung durch Stalin selbst standen sich die kommunistischen Parteien der Welt oft genug in verschiedenen Lagern gegenüber; von Titos oder Maos Kommunisten bis zu Che Guevara oder den „Eurokommunisten“ der 70er Jahre. Wahrhaftig: „Eine Weltgeschichte zu schreiben ist ein schwieriges Unterfangen“, wie Priestland im Nachwort rekapituliert.

Gelungen ist ihm das auch durch die Mitarbeit anderer. Seiner Mitarbeiterin Maria Misra dankt er dafür, dass sie das gesamte Manuskript gelesen und „den Leser vor einer ganzen Reihe schwerfälliger Sätze bewahrt“ hat. Dieses Kompliment darf man dem gesamten Buch machen, das für sein Panorama des Weltkommunismus ohne Kauderwelsch, Parteichinesisch oder auch nur Politologendeutsch auskommt. Gerne bedient sich Priestland sogar literarischer Beispiele und Zitate, um die Theoriewelt der kommunistischen Idee und ihre realsozialistische Praxis zu beleuchten. Bisher jedenfalls sei das Verständnis des Kommunismus „durch die hochpolitische Art der Schriften und die vielen einander widersprechenden Interpretationen, die ihnen zu entnehmen waren, erschwert“.

Priestland setzt sich mit drei – „auf ihre Art jeweils schlüssige“ – Kernthesen über das Wesen des Kommunismus auseinander: Dem marxistisch-leninistischen Selbstverständnis als rationale Ordnung, die sich im Gang der historischen Entwicklungsgesetze verwirklicht; seiner gegnerischen Deutung als Ergebnis einer Repressionsgeschichte, die zum großen Teil von Fanatismus und Machtpolitik motiviert war; und schließlich als Wechselspiel zwischen Modernisierung und Utopismus, das 1989 zwar sein realsozialistisches Ende gefunden, aber seine „prometheischen“ Triebkräfte nicht endgültig verloren habe. In seinen Eingangskapiteln über den Protokommunismus des 18. und 19. Jahrhunderts stellt Priestland Marx als „deutschen Prometheus“ vor, der den utopischen Kommunismus vom Kopf auf die Füße von Wissenschaft und Ökonomie gestellt habe. Das Problem, das Marx formuliert habe, bleibe auch nach dem Untergang des Staatskommunismus – selbst China habe ihn praktisch aufgegeben – aktuell: „Wie lassen sich dezentrale Gemeinschaften mit modernen Staaten und allgemeinem Wohlstand verbinden?“ Nach dem Scheitern der realsozialistischen Planwirtschaft sei von den westlichen „Siegern der Geschichte“ jeder Gedanke an eine staatliche Regie der Wirtschaft verworfen worden, aber das Pendel habe nach der Finanzkrise „mittlerweile wieder zur anderen Seite ausgeschlagen … Wenn die Globalisierung jedoch ohne weiteres Chaos fortgesetzt werden soll, muss Prometheus, der rationale Planer, Hermes den Händler zügeln, wie er es 1945 schon einmal getan hat. Nach dem Ende des Kommunismus sind viele seiner prometheisch Impulse verständlicherweise in Verruf geraten. Aber Prometheus vollständig zu ignorieren könnte sich als kostspielig erweisen“.

Zwischen Marx und diesem Ausblick liegt der Rückblick auf die Epoche des Weltkommunismus, der zur Zeit seiner größten Ausbreitung 1949 immerhin ein Drittel der Weltbevölkerung regierte. Stalin – laut Mao Tse-Tung „zu 70 Prozent Marxist, zu 30 Prozent keiner“ – stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht, Mao – laut Molotow „kein echter Marxist, sondern eine gerissener Bauer“ – noch vor dem „Großen Sprung nach vorn“ und der „Großen proletarischen Kulturrevolution“, die Priestland als Wiederholung stalinscher Fehler der 30er Jahre interpretiert. Doch Tito begann bereits seinen eigenen Weg zu gehen, und sofort nach Stalins Tod folgte das Aufbegehren der zwangssowjetisierten Länder in Osteuropa – der 17. Juni in der DDR, die polnischen Unruhen, die ungarische Revolution. 1956 wird die Nachfolgerin der Komintern, das Kominform („Stalins Kontrollinstrument“) aufgelöst, ein kurzes Tauwetter geht durch die kommunistische Welt, gefolgt vom großen Schisma zwischen Moskau und Peking. Chruschtschows Sturz, Breschnews Einmarsch in Prag, Chinas „kapitalistischer Weg“ und die Gründung der „Solidarnosc“ in Polen leiten schon über zum Systembruch 1989.

Priestland folgt der Entwicklung in großen Zügen und relevanten Details und richtet den Blick gleichzeitig auf die „Dritte Welt“ in Asien und Afrika, wo der Kommunismus im Kampf gegen die westlichen Kolonialmächte zunächst Sympathien gewann und (meist national-)revolutionäre Bewegungen inspirierte. Deren Siege und Niederlagen – in Vietnam, Kuba, Nicaragua und Südamerika – kommen ausführlich zur Sprache. Ein Seitenblick fällt auch auf exotische Satelliten der beiden kommunistischen Großmächte wie Nordkorea, Albanien oder Kampuchea und die gescheiterten marxistischen Regimes in Afghanistan, Äthiopien und Mosambik. Wer sein Gedächtnis an diese wechselvolle Vergangenheit auffrischen will, findet bei Priestland einen zuverlässigen Überblick. Nur deutsche Leser werden entdecken, dass auch Priestland einmal irrt, wenn er die Parole „Wir sind ein Volk“ in Berlin am 9. November 1989 lokalisiert. Diese Priorität gebührt den Leipziger Montagsdemonstranten, die damit vielleicht kein eigenes Kapitel, aber doch eine Fußnote zur Weltgeschichte des Kommunismus geschrieben haben.

– David Priestland: Weltgeschichte

des Kommunismus.

Von der französischen Revolution bis heute. Siedler-Verlag,

München 2009.

784 Seiten, 32,90 Euro.

Hannes Schwenger

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