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Leipziger Buchmesse: Die Einsamkeit des Analysten

Der 11. September und das Cricketspiel: Joseph O’ Neills großer amerikanischer Roman „Niederland“.

Man könnte es, in Abwandlung einer Zeile des deutschen Liedermachers Jochen Distelmeyer auch so sagen: Die Sportart Cricket hat diesem Leben einen neuen Sinn gegeben. Dem Leben des holländischen Investmentbankers und Ölmarkt-Analysten Hans van den Broek, der nach dem 11. September 2001 zwar beruflich weitermacht wie bisher, privat aber aus dem Gleis gerät, nachdem ihn seine Frau und sein kleiner Sohn in der Stadt zurückgelassen haben und er eine Wohnung im sagenumwobenen, von allerhand skurrilen Gestalten bevölkerten Chelsea Hotel bezogen hat.

Van den Broek ist der sprachmächtige, psychologisch versierte, in seinem wissend-desillusionierenden Duktus manchmal an Richard Fords Protagonisten Frank Bascombe erinnernde Erzähler in „Niederland“, Joseph O’ Neills in den USA und jetzt auch hierzulande umjubelten, kürzlich mit dem PEN/FaulknerAward ausgezeichneten Roman. Und er ist Gott sei Dank auch so reflektiert, dass er selbst die Probleme anspricht, die sich bei der Vermittlung einer für Außenstehende eher befremdlichen Sportart wie dem vor allem in England und seinen früheren Kolonien beheimateten Cricket ergeben. „Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft ich in New York vergeblich versucht habe, einem Passanten die Grundlagen des vor ihm stattfindenden Spiels zu erklären, ein Scheitern von Erklären und Verstehen, das mich bald irritierte und zur Aufgabe veranlasste.“

Das hält ihn nicht davon ab, unaufhörlich das Cricketspiel und dessen Bedeutung für sein Leben nach 9/11 zu beschreiben, von der Beschaffenheit der Spielfelder über das Zusammenspiel von „Batsmen“, „Bowlern“ und „Stumps“ bis zu den Feinheiten der Regelkunde. Bei einem dieser Spiele lernt er den aus Trinidad stammenden Chuck Ramkisson kennen, mit dem er bald tief in eine Stadt eintaucht, die ihm in seiner Banker-Manhattan-Kleinfamilienexistenz bislang verschlossen geblieben war.

Nun hat dieser unablässige Cricket-Diskurs für den Leser etwas schwer Zugängliches. Im geringfügig besseren Fall gemahnt es an das ewig lange Baseball-Intro von Don DeLillos „Underworld“, im schlechteren an das einzige unleserliche Buch von Philip Roth, dem ziemlich reinen Baseball-Roman „The Great American Novel“ von 1973. Dennoch ist es nicht zuletzt das Cricketspiel, im Wechsel mit den Hauptfiguren und ihren Biografien, das aus „Niederland“ einen wirklich großen amerikanischen Roman macht, einen modernen, zeitgemäßen.

Cricket besitzt für O’ Neills Erzähler eine wichtige soziale Komponente, die ihn nicht nur aus seiner Einsamkeit herausholt, sondern ihn die Multiethnizität New Yorks hautnah erfahren lässt. Stammen seine Mannschaftskameraden doch aus Guyana, Jamaika, Indien, Pakistan und Sri Lanka. Außer sich selbst sieht er „keinen einzigen Weißen auf den Cricketplätzen von New York“. Sein Sportsfreund Chuck weiß außerdem, dass Cricket zwar die am schnellsten an Popularität gewinnende Sportart der Welt ist, die mit Schläger und Ball ausgeübt wird, in New York und Amerika aber keinen hohen Stellenwert besitzt. Weshalb er schlussfolgert: „Wollen sie einmal erleben, wie es ist, in diesem Land ein Schwarzer zu sein? Dann ziehen Sie sich die weiße Kleidung des Cricketspielers an. Ziehen Sie Weiß an, um sich schwarz zu fühlen.“

Es ist dieses Spannungsfeld, das Joseph O’Neills Roman so besonders macht, auch innerhalb des Genres der 9/11-Romane von Jonathan Safran Foer, Don DeLillo oder JayMcInerney. Dabei gerät ihm selbst sein größtes Manko zur Stärke. Denn die Fremdheit, die O’ Neills Erzähler am eigenen Leib erfährt, spiegelt sich schön in der Fremdheit, mit der er dem zwanzig Jahre älteren Chuck Ramkisson trotz aller Nähe und Zuneigung begegnet, in der Blässe dieser Figur, die im Vergleich zu van den Broek nur schwer fassbar wird.

Wie fremd man sich in der Fremde fühlen kann, wie sehr man sich dann bis in die kleinsten psychologischen Verästelungen zu analysieren weiß, damit dürfte sich O’ Neill nur zu gut auskennen. 1964 in Cork/Irland als Sohn einer Türkin und eines Iren geboren, ist er in Holland aufgewachsen, arbeitete als Anwalt in London und lebt seit einigen Jahren als freier Autor in New York. Einiges davon dürfte in die Biografie des Hans van den Broek eingeflossen sein, der sich vorsichtig tastend durch die Trümmer seiner Ehe bewegt und jedes zweite Wochenende versucht, seine „New Yorker Verwirrung“ hinter sich zu lassen, indem er nach London zu Frau und Sohn reist. Ein Mitdreißiger ohne große moralische Anwandlungen, der sich trotz seines Jobs nur wenig für die Weltpolitik interessiert, aber unentwegt zweifelt und grübelt. „Ich konnte nicht sagen, wo ich stand. Bedrängte man mich, meine Position zu benennen, pflegte ich die Wahrheit zu bekennen, dass es mir nicht gelungen sei, eine Position zu gewinnen. Es fehlte mir an den dazu erforderlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, an Sicherheit und vor allem Voraussicht.“

Mit Chuck Ramkisson cruist er nun durch Brooklyn, Queens und Long Island, durch Viertel und Straßen, die nicht weiter weg von der Wall Street sein könnten und von muslimischen Bestattungsinstituten, hispano-amerikanischen Gartengeschäften, afrikanischen Gewürzläden oder russisch-orthodoxen Thermalbädern gesäumt werden. Van den Broek beobachtet Chucks vielfältiges, nicht immer legales Geschäftsgebaren und erfährt, wie sehr dieser Emigrant an den amerikanischen Traum glaubt, „an das grüne Licht, an die rauschende Zukunft“. Ein Traum, den Chuck mit seinem Leben bezahlt. Eines Tages, und damit setzt der Roman ein, wird Chucks Leiche im Hudson River gefunden und Hans van den Broek von der Polizei informiert.

Joseph O’Neill weiß die Erzählebenen von „Niederland“ mühelos zu wechseln und versteht es, ohne Brüche, manchmal sogar mitten im Satz, zwischen den Zeiten im Leben seines Helden hin- und herzugleiten. Wenn auch sprachlich zuweilen arg gewunden, gelingt es ihm, die Irritationen der westlichen Welt nach dem 11. September 2001 zu schildern, „den Abgrund von Jammer, die Tiefe der Scheiße, aus welcher der Leidende nur zu höheren, lieblicher duftenden Stellen gelangen kann“. Der Terror in London, die Stromausfälle, die die New Yorker an ihr Trauma erinnern, der Krieg im Irak – alles drin. Dass Hans van den Broek Weihnachten 2004 allerdings ausgerechnet in Indien Urlaub macht und vom Tsunami keine Rede ist, muss bei einem so explizit Weltpolitisches mit Privates verbindenden Roman stutzig machen und mindestens als Schönheitsfehler bezeichnet werden.

Doch weiß O’ Neills Held nur zu genau, dass sein individuelles Unglück „mit objektiven Katastrophen“ kaum zu vergleichen ist. Dennoch schreckt er vor „offensichtlicher und vorfabrizierter Symbolik“ nicht zurück. Am Ende steht er mit seiner Familie im „Millennium Wheel“ in Londons City, lässt sich in die Höhe tragen und freut sich, „zuvor nicht gesehene Horizonte“ zu sehen, und wie „die alte Erde sich offenbart“. Ein versöhnlicher Schluss, der sich mit seiner „Es ist noch immer alles gut gegangen“-Haltung aber auch als ein großer Trugschluss erweisen könnte.

Joseph O’ Neill:  Niederland. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 315 Seiten, 19,90 €.

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