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Leipziger Buchmesse: Im Reich der weißen Plastikstühle

Willkommen im Europa der kleinen Buchstaben: Karl Schlögel über Moskau einst und jetzt – und die neue Routine zwischen Ost und West.

Herr Schlögel, Sie erhalten in Leipzig den Buchpreis zur Europäischen Verständigung für Ihr Werk „Terror und Traum – Moskau 1937“. Sie schildern darin ein im stalinistischen Blut watendes Russland, das zugleich einen enormen Modernisierungsschub erlebt. Worin die historische Dimension dieses Schicksalsjahres liegt, das zwischen Chopin-Konzerten im Rundfunk und Tötungsritualen zerrissen ist, führen Sie eindrucksvoll vor Augen. Was aber lässt sich daraus für die europäische Verständigung lernen?



Man kann heute vielleicht leichter über Perikles sprechen als über die Fraktionskämpfe in der russischen KP. Mein offensichtlicher Beitrag zur europäischen Verständigung liegt auch sicher eher in den Büchern, in denen ich den Horizont für ostmitteleuropäische Städte und Topografien öffne, ohne die man, wie ich glaube, keine deutsche Geschichte schreiben kann. Aber ich halte es für wichtig, dass das Datum 1937 auf der mentalen Karte Europas platziert wird.

Wieso ist es so wenig präsent?

Seine Abwesenheit in Deutschland, wo man sich vor allem der nationalsozialistischen Leidensgeschichte zugewandt hat, sagt viel über die Asymmetrien der historischen Wahrnehmung aus. Es wäre einiges gewonnen, wenn sich der Kanon der Katastrophenerfahrungen erweitern würde, wenn man also nicht nur Primo Levi, sondern auch Warlam Schalamow als Jahrhundertfigur begreifen würde.

Der jüdische Intellektuelle, der vom Lagersystem in Auschwitz Zeugnis ablegt, und der Zeuge des Lagersystems in Sibirien gehören zwei entgegengesetzten Erinnerungskulturen an. In Russland ist es eine der staatlichen Verdrängung und in Deutschland eine, die historische Schuld von Staats wegen als Auftrag versteht.

Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Rhythmus, um mit sich ins Reine zu kommen. Der deutsche Weg ist ein Weg. Der russische Fall ist viel komplizierter. Ich werde wütend, wenn die Deutschen mit ihrer Weltmeister-Attitüde in Sachen Vergangenheitsbewältigung den Russen predigen, wie die es machen sollen.

Warum ist der russische Fall so anders?

Anders als beim Holocaust kann man keine klare Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern treffen, denn am Ende dieser Massenterror-Operation sind die Exekutoren der NKWD-Elite selbst zu Zehntausenden umgebracht worden. Die Opfer sind auch nicht einfach verschwiegen worden. Der Zweite Weltkrieg, der noch einmal eine ungeheure Steigerung an Opfern und Gewalt mit sich brachte, hat sie nur in den Hintergrund gerückt. Und schließlich gab es keine öffentliche juristische Aufarbeitung wie durch den Auschwitz-Prozess. Neben der im Stillen arbeitenden Rehabilitierungskommission hat in den ersten Jahren nach Stalin vor allem eine bedeutende Arbeit im Medium der Literatur stattgefunden.

Wird die Auseinandersetzung mit Russlands finstersten Jahren in den Lehrplänen, wie sie unter Putin zustande kamen, nicht planmäßig hintertrieben?

Die Reichweite einer staatlichen Geschichtspolitik ist begrenzt, auch wenn die Schulbücher noch so viele prostalinistische Akzente setzen. Die russischen Historiker haben eine heroische Arbeit bei der Publikation von Quellen geleistet. Wenn Sie heute durch Russland fahren und die Heimatmuseen auf dem Land besuchen, gibt es keines, in dem die blutige Geschichte des Bürgerkriegs, der Kollektivierung, des 37er Jahres und schließlich des Großen Vaterländischen Kriegs nicht präsent wäre.

Sie beschreiben in Ihren Büchern, wie die globalisierten Warenströme die Länder hinter dem Eisernen Vorhang durchqueren. In „Marjampole“ zum Beispiel haben Sie sich Europas größten Gebrauchtwagenmarkt in der gleichnamigen litauischen Stadt als Sinnbild gewählt. Gibt es von Seiten Westeuropas nicht auch eine große kulturelle Ignoranz?

Der Fortgang der europäischen Beziehungen hängt für mich nicht an einem ultimativen Roman, der uns die Melodie von Europa singt. Den größten Erkenntnisgewinn ziehe ich persönlich aus dem Gespräch mit Praktikern wie etwa dem bayerischen Brauereispezialisten, der nach Kiew oder nach Odessa geht. Wenn der, obwohl er gewissermaßen mit dem Fallschirm abgesprungen ist, nach zwei Jahren weiß, wie das Land tickt und was geschehen muss, damit es auf die Beine kommt – so etwas beeindruckt mich.

Mit dem guten bayerischen Bier ist, um das Schreckbild Nummer eins zu zitieren, auch McDonald’s gekommen.

Vielleicht kennen Sie Michael Chauvistrés wunderbaren Film „Mit Ikea nach Moskau“. Auch über Ikea können Sie lächeln. Aber für ein Land, das in Bezug auf die Versorgung mit Konsumgütern in einem ständigen Ausnahmezustand gelebt hat, in dem nichts ohne Warten, Schlangestehen und Vergeudung von Lebensenergie zu haben war, sind Billy-Regale etwas Außerordentliches. Auf einmal war der Kunde kein Feind mehr, er wurde nicht mehr eingeschüchtert, verjagt und bestraft.

Sie sagen – auf einmal. Dabei kam das alles nicht über Nacht.

Nein, die ersten Anzeichen sah man schon in den Achtzigern, als überall von Warschau bis Moskau diese weißen stapelbaren Plastikgartenstühle auftauchten. Tausende von Leuten, die in dieser Zeit nach Westen reisten, sahen, dass man im öffentlichen Raum so etwas wie Cafés einrichten kann. Das war kein Berufseuropäertum, sondern Weltläufigkeit in kleinen Buchstaben. Eine Einübung in alltägliche Routinen, ohne die Europa nicht funktionieren kann.

Und im Westen?

Ich habe gerade meinen 20 Jahre alten Artikel über den Berliner Polenmarkt im Tagesspiegel wiedergelesen. Wie alarmiert waren die Grenzbeamten in Dreilinden und die Polizei, als Tausende von Polen sich auf Berlin zubewegten und diesen Nichtort am Potsdamer Platz zu einem Marktplatz erklärten. Oder die Verwandlung von Kantstraße und Bahnhof Zoo in einen Basar. Oder der Aufbruch von Dritte-Welt-Studenten der Moskauer Patrice-Lumumba-Universität nach Berlin, wo sie sich mit Stereoanlagen und Videorekordern eindeckten. Oder die Pendelbewegungen mit dem Paris-Moskau-Express. Im Rückblick auf 1989 finde ich es schade, dass diese Zersetzungsprozesse und Ameisenaktivitäten neben dem sprengenden Augenblick vergessen werden.

Sie haben auch zu neuen Nationalismen und neuen Sezessionsbewegungen geführt. Der Schriftsteller László Vegel, ein Ungar im serbischen Novi Sad, beschreibt Osteuropa als Territorium, auf dem eine stillschweigende ethnische Säuberung stattgefunden hat, während Westeuropa heute das wahre multiethnische Feld ist.

Das stimmt – und stimmt nicht. Eine Stadt wie Vilnius ist erst nach dem Krieg eine wirklich litauische Stadt geworden. Sie war vorher jüdisch, russisch, polnisch. Das gilt für fast alle Städte des östlichen Europa, die durch verschiedene gewaltsame Schübe ihr Gesicht gewandelt haben. Insofern gibt es eine aufsteigende Linie des Nationalen, auch des Nationalkommunistischen. Zugleich ist eine Zeit neuer Wanderungen angebrochen. Überall entstehen wieder kosmopolitische Gemeinschaften. Lemberg, das zu Sowjetzeiten hinterste Provinz war, ist wieder eine weltzugewandte Stadt.

Sogar China ist schon angekommen.

Ja, denken Sie an Budapest und den Chinesenmarkt in der Josefstadt, eine verrückte Sache! Die Chinesen heiraten auf dem Burgberg in der Matthiaskirche, es gibt mehrere chinesische Zeitungen, ähnliche Verhältnisse findet man in Bukarest und Belgrad. Auch in Moskau leben angeblich mehrere hunderttausend Chinesen, die mit den großen Bautrupps vor zwei, drei Jahren kamen. Vor dem Bauboom waren es Tadschiken und Usbeken. Es gibt die Gemeinde der aus Aserbaidschan stammenden Aseris, die größte georgische Gemeinschaft außerhalb Georgiens – von den Briten, Holländern und Deutschen nicht zu sprechen.

Ist das ein glückliches Miteinander?

Dieser neue Kosmopolitismus wird natürlich von archaischen Vorstellungen überlagert, die neue Überfremdungsängste produzieren. Die alte imperiale Multiethnizität trifft auf einen Neonationalismus, wie ihn Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow verkörpert. Aber das alles verändert sich in einem schwindelerregenden Tempo. Das Moskau von heute ist nicht mehr die Stadt, die ich kannte. „Moskau lesen“, das Buch, das ich 1984 geschrieben habe und jetzt auf Russisch erscheint, müsste eigentlich umbenannt werden in „Ein Führer durch Pompei“.

Liegt die kulturelle Macht wegen der Ökonomie nicht eindeutig auf seiten des Westens? Prags neuer Glanz lebt von westeuropäischen Investoren, und der russische Markt für Handarbeit-Zeitschriften wird von Burda dominiert.

Das ist natürlich ein Problem, und ich will kein Apologet eines ungebremsten westlichen Vormarschs sein. Aber die Erneuerung kann sich nur in der Auseinandersetzung mit dieser Invasion vollziehen. Die Schnittmuster waren übrigens seit den 60er Jahren eine Hauptwährungsform. Man konnte in Moskau mit Jeans handeln oder mit Schnittmustern. Beides waren Ausdrucksformen einer an Mode und sozialen Formen interessierten weiblichen Öffentlichkeit, die einer Gesellschaft widerstehen wollte, in der es zu schrecklicher Verwahrlosung gekommen war. Walter Benjamin hat einmal geschrieben: „Wer die Mode zu lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um Strömungen in der Kunst Bescheid, sondern auch um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.“

Was lesen Sie denn aus den neuesten globalisierten Zeichenströmen heraus?

Für mich ist die russische Moderne, alles, was zwischen 1890 und 1930 oder auch nur bis zum Ersten Weltkrieg passiert ist, ein Beleg dafür, dass Russland in Reaktion auf diese erste wuchtige Globalisierung bedeutende Leistungen hervorbringen konnte, die weit nach Europa ausstrahlten. Die Komponisten Sergej Prokofjew und Igor Strawinsky oder der Ballettimpresario Sergej Diaghilew sind das Ergebnis einer glücklichen Konstellation, die sich in der Konfrontation zwischen einer Supermoderne und diesem Land ergeben hat. Warum soll in einer neuen glücklichen Konstellation so etwas nicht wieder zustande kommen?

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

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