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Leipziger Buchmesse: Mein Name sei Faber

Schicksalsdrama in den Trümmern von Sarajevo: Igor Štiks’ Roman "Die Archive der Nacht".

Ich werde es zu Papier bringen. Alles. Alles, was mir in den letzten Monaten widerfahren ist. Wird es mir glücken? Nein, ich glaube nicht.“ Eine schönere Steilvorlage als solch einen Beginn kann sich der Rezensent eigentlich nicht wünschen: Zwar ist es selbstverständlich der Ich-Erzähler, der hier daran zweifelt, seine ungeheuerlichen Erlebnisse niederschreiben zu können. Aber am Autor bleibt doch auch immer etwas hängen. Sagen wir es so: Die Geschichte, von der der 1977 in Sarajevo geborene Schriftsteller Igor Štiks in „Die Archive der Nacht“ berichtet, ist so unglaublich und tragisch, dass man sich das Leben sofort ganz schicksalsbefohlen vorstellt und von allem Zufallsglauben Abstand nimmt. Bei den alten Griechen ging's auch nicht dramatischer zu.

Igor Štiks ist eine gewisse erzählerische Kühnheit nicht abzusprechen: Er fädelt von der ersten Seite an den irrwitzigen Verlauf seiner Geschichte ein, lässt kleine Andeutungen bedeutungsschwer zwischen die Zeilen dieses als Confession angelegten Textes bröckeln; allerdings werden einem nach einer Weile die Vorausdeutungen und retardierenden Momente ein wenig zu bunt, und bis der Roman auch sprachlich etwas solideren Textgrund gewinnt, vergehen gut und gerne 200 Seiten.

„Die Archive der Nacht“ spielt zum größten Teil in Sarajevo anno 1992; damals war die Stadt von serbischen Streitkräften belagert. Aber nicht nur Sarajevo ist im Ausnahmezustand, sondern auch Štiks’ trauriger Held: Der angesehene, von einer kapitalen Lebenskrise befallene Wiener Großschriftsteller Richard Richter macht sich auf in die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, vordergründig, um aus dem Innern des Krieges für Zeitungen zu berichten und Ideen für ein neues Buch zu sammeln. Eigentlich aber, um einer eigenen inneren Belagerung durch Identitätszweifel zu entkommen und ein Familiengeheimnis zu lüften.

Sein schöner, stets für bare Münze genommener Familienroman hat sich nämlich durch den Fund eines Briefes seiner Mutter als reine Fiktion entpuppt: Dem Dokument lässt sich entnehmen, dass der früh durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Vater Heinrich Richter die Rolle des Erzeugers nur aus Großherzigkeit vorgetäuscht hatte; die bei Richards Geburt verstorbene Mutter war nicht von ihm, sondern von einem Mann namens Jakob Schneider schwanger, einem Kommunisten und Juden, der 1941 durch Denunziation in die Hände der Gestapo fiel. Jakob Schneider stammte aus Sarajevo, und der fantasiebegabte Schriftsteller Richard Richter setzt sich in den Kopf, dass dieser Mann durch glückliche Umstände am Leben geblieben sein und tatsächlich noch in Sarajevo leben könnte.

In der von der Jugoslawischen Volksarmee beschossenen Stadt macht er sich auf die Suche – die Untergangsstimmung an diesem Ort entspricht seiner Bewusstseinslage; Sarajevo ist, das wird bald klar, nicht viel mehr als eine Kulisse für das anstehende Seelendrama. Richter taucht ein in die Archive und wird wie ein Blinder von einer seltsam unfassbaren, orakelnden Seher-Figur durch die Katastrophe geleitet. Bald begegnet er in bohemistischen Theaterkreisen der Schauspielerin Alma, die eine dramatisierte Fassung von Max Frischs „Homo Faber“ inszeniert. Die Handlung des Romans über den Ingenieur Walter Faber, dem durch eine Reihe schicksalhafter Ereignisse und eine Liebesaffäre mit der eigenen Tochter die rationalistische Weltsicht ausgetrieben wird, setzt sie in engen Bezug zum Krieg.

Über Seiten hinweg gelingt es Alma weder Richard noch dem Leser zu erklären, warum sie ausgerechnet mit diesem Buch das zermürbte Publikum in den Trümmern Sarajevos aufrütteln will. Als Richard und Alma sich aber in eine leidenschaftliche Affäre stürzen, hört zumindest der Leser die Nachtigall trapsen. Alma hat einen Vater, und der heißt Snajder. Die Dinge werden fortan sehr kompliziert, aufregend und verworren.

Richard Richters Erlebnisse sind festgehalten in einem blauen Notizheft, das er nach seiner Rückkehr nach Wien angefertigt hat – ein Testament, posthum veröffentlicht (der Name des Protagonisten weist schon darauf hin, dass er sich selbst richten wird). Das entschuldigt einiges: Der Mann war aufgebracht, verzweifelt, verloren, als er schrieb. Weshalb er es stilistisch auch nicht immer so genau nahm. Er „verbeißt“ sich „mit einer Hast“ in einen Eisberg, „als wollte ich fünfzig Jahre Lüge ausmerzen“. Und ihn befällt immer und immer wieder eine „Ohnmacht“ und, schlimmer noch, eine „Schreibohnmacht“; die Tinte aber kann er doch nicht halten.

Es bleibt so nach der Lektüre von Štiks’ zweitem Roman ein zwiespältiger Eindruck zurück: einerseits Bewunderung für das Wagnis, ein großes Schicksalsdrama in Zeiten des Krieges mit allen verfügbaren Mitteln der Erzählkunst zu inszenieren und das Material auf ambitionierte Weise zu verknüpfen. Andererseits Unbehagen angesichts von handwerklichen Mängeln und Redundanzen, Überkonstruiertheit und -determiniertheit der ausgebreiteten Erzählteile. Ein Autor, dem man noch einiges zutrauen darf, ist Igor Štiks gewiss.

Igor Štiks: Die Archive der Nacht. Roman. Aus dem Kroatischen von Marica Bodrozic. Claassen, Berlin 2008. 379 Seiten, 19,90 €.

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