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Literatur: Das Flackern im Dunst

Literarische Nouvelle Vague: Schriftsteller Tanguy Viel erzählt in seinem neuen Roman von einem fast perfekten Verbrechen.

Manchmal ahnen wir gar nicht, was sich schon alles in uns abgelagert hat. Welche Bilder, Sätze, Töne, Szenerien, Geschichten und Melodien, Romane und Filme in uns schlummern. Und wie wenig es bedarf, um unser wundersames Gedächtnis auf Trab zu bringen, Zusammenhänge herzustellen und aus einzelnen Stichworten Panoramen zu bilden. Manchmal genügen tatsächlich einzelne Wörter: "Die verdreckten Docks. Die verrosteten Gleise. Die reglosen Kräne. Ihre Verlassenheit. Der Dunst. Die Kais. Das fast graue Meer. Die Brandung. Die Promenade entlang. Die Brücke hinten. Die vierspurige Straße vorn. Die roten Neonbuchstaben. Das Casino."

Ist das nicht schon ein Roman? Man glaubt, mit ein bisschen Fantasie, alles zu sehen und zu spüren, denkt sich ein paar Männer dazu, die in dieser Verlassenheit herumschleichen, die etwas nicht ganz Koscheres im Sinn haben. Man riecht das Meer durch den Nebel, und vielleicht hört man im Hintergrund eine Filmmusik, wie sie Alfred Hitchcock in solchen Momenten verwendet hätte. Aus dem Dunkel taucht die Leuchtreklame auf, ein Flackern in der Schattenwelt. Und das Casino? Vielleicht läuft hier alles zusammen, vielleicht sind Frank Sinatra, Alain Delon, George Clooney und ihre Spießgesellen gerade dabei, den Coup ihres Lebens zu landen.

Tanguy Viel ist verschwenderisch mit den Bildern, die er evoziert, und sparsam mit seiner Sprache: Es genügen Andeutungen, und schon lässt er eine flirrende, kühle, spannungsreiche Atmosphäre erstehen. Er klaut frech aus der Requisitenkammer der großen Filme – aus "Lautlos wie die Nacht" von Henri Verneuil, aus "Ocean’s Eleven", dem Film Noir und dem, was die Nouvelle Vague daraus gemacht hat, sogar bei Tarantino. "Das absolut perfekte Verbrechen" ist ein kurzer Roman, der das Krimigenre nutzt, wie etwa Godard den Gangsterfilm genutzt hat, um damit doch noch etwas ganz anderes zu erzählen, mit leichter Hand von Schwermut, Schuld, Rache zu handeln.

Der Plot ist dabei fast nebensächlich, erscheint wie eine feste Stahlkonstruktion: Der Erzähler, ein von Anfang an melancholischer, ein bisschen resigniert erscheinender Mann, ist Teil einer Gruppe von Ganoven. Der sogenannte "Onkel" hat sie um sich geschart zu einer "Familie", eine mafiöse Gesellschaft im Kleinstadtformat. Marin, gerade aus dem Gefängnis entlassen, möchte der Familie zu Ruhm und Ehre und natürlich viel Geld verhelfen und heckt einen schier undurchführbaren Plan aus. Ziel der kriminellen Begierde ist das örtliche Casino. "Wenn das gelingt, fing der Onkel wieder an, wenn das gelingt, dann ist es das absolut perfekte Verbrechen."

Der Erzähler glaubt von Anfang an nicht ans Gelingen, und als Marin einen raffinierten Gauner namens Lucho anschleppt, der eine entscheidende Rolle spielen soll, überfällt ihn eine böse Ahnung. Da hier alles im Rückblick berichtet wird und auf dem Höhepunkt des Geschehens sich die eigentliche Erzählung mit der Schilderung der Tatortbesichtigung von Richter und Polizei abwechselt, weiß man, dass es das perfekte Verbrechen auch hier nicht gibt. Welche Wendung die Geschichte allerdings am Ende nimmt, sei dennoch nicht verraten – Blut jedenfalls fließt reichlich. Und Tanguy Viel greift noch einmal raffiniert auf sein Filmarchiv zurück.

Der Roman hat eine symmetrische Struktur: Ist es am Anfang Marin, der aus dem Gefängnis entlassen wird und auf den Erzähler einprügelt, weil der ihn dort nicht besucht hat, kehren sich die Rollen am Ende um. Dazwischen gibt es drei Teile: Der Plan, die Durchführung, die Rache könnte man sie überschreiben. Es gibt klar konturierte Zeichnungen der Charaktere, wie Comic-Helden erscheinen sie manchmal, und subtile Andeutungen fehlen ebenfalls nicht: Die Stammkneipe der Bande heißt "Lord Jim" – wie Joseph Conrads Roman, in dem es um moralische Integrität geht. Später wird das Lokal umbenannt in "Billy Budd" – und mit Melville kommen Intrigen, Zweifel und innere Gewissensqualen ins Spiel.

Ein fast perfekter Roman eines natürlich nicht ganz perfekten Verbrechens: Tanguy Viel, dessen viertes Buch "Unverdächtig" im letzten Jahr auf Deutsch erschienen und zu Recht gerühmt wurde, schreibt keine Genreliteratur, sondern nutzt ein Genre, um schneller zum Wesentlichen vordringen zu können: zu Stimmungen und Desillusionierungen und Konflikten. "Das absolut perfekte Verbrechen“, im Original bereits vor "Unverdächtig“ erschienen, spielt damit nicht weniger souverän.

Tanguy Viel: Das absolut perfekte Verbrechen. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach-Verlag, Berlin 2009. 160 Seiten, 16,90 €. – Autor und Übersetzer stellen das Buch am Dienstag, 17.03., um 18.30 Uhr in den Berliner Galeries Lafayette vor. Der Eintritt ist frei.

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