zum Hauptinhalt
318712_0_73b4e001.jpg

© Reuters

Literatur: Rettende Apokalypse

Der israelische Autor Nir Baram erzählt von einem verwüsteten Israel.

Wir leben jetzt in einer klassisch jüdischen Situation“, sagte der Erzähler Aharon Appelfeld vor zwei Jahren in einem Interview über sein Land: „Das heißt, es ist ein Ghetto; zwar mit Komfort, aber ein Ghetto.“ Er spielte damit auch auf den neuen Grenzzaun entlang des Westjordanlandes an, der 2005, als Nir Barams Roman „Der Wiederträumer“ in Israel erschien, fertiggestellt wurde und die Atmosphäre entscheidend verändert hat. In Barams Roman kommt er nur einmal vor, aber er durchzieht ihn als Symbol der Zwangs- und Gewaltsituation dieser Region. Einsamkeit, Panik und gegenseitiges Unverständnis sind die Grundthemen dieses labyrinthischen, einfühlsam erzählten und melancholischen Buches, in dem die Liebenden sich aneinanderklammern, bis ihnen buchstäblich die Luft wegbleibt, und der Erzähler Joel mit allen Mitteln der Frage nachjagt, wer er ist und welchen Erinnerungen und Träumen er trauen soll.

Doch „Der Wiederträumer“ ist nicht nur ein poetisches, sondern auch ein dezidiert politisches Buch. Sein Autor, der 1977, zehn Jahre vor der ersten Intifada, in Jerusalem geboren wurde, stammt aus einer Politikerfamilie; sein Vater war Innenminister unter Yitzak Rabin. Bis heute ist Baram in der Friedensbewegung engagiert und schreibt Kolumnen, in denen er sich für einen multikulturellen Staat einsetzt. Aufgewachsen ist er wie sein Erzähler Joel im patriotischen Viertel Beth Hakerem, und die bösen Schilderungen der dortigen Scheinidylle, die auf Kontrolle und gnadenloser Ausgrenzung beruht, sind meisterhaft. Es sind die einzigen Kapitel, in denen es nicht direkt um Leben und Tod geht – das genuine Feld der Politik, wie der Autor einmal sagte. Barams Roman spielt im heutigen Tel Aviv, das von einer Atmosphäre der Bedrohung beherrscht wird. Jede Freundschaft verwandelt sich in ein Minenfeld, und aus einer Kinderliebe, wie der zwischen den Zwillingen Lior und Alon, wird ein Anziehungs- und Abstoßungskampf: Die Schwester beobachtet jeden Atemzug und jede Bewegung ihres Bruders, der immer wortkarger wird und nächtelang durch die Straßen wandert.

Er fühlt sich in der Welt ähnlich heimatlos wie Terézia Moras Antiheld Abel Nema in „Alle Tage“, dessen Leben von Panik- und Fluchtgedanken bestimmt wird. Wie eine Erlösung überfällt ein Monate dauernder Orkan die Stadt, der nicht nur Mauern, sondern auch die seelische Erstarrung der Menschen zertrümmert. In diesem Chaos lösen sich auch die Erinnerungen auf – eine Seite dieser Apokalypse, die ihr Gutes hat, wie die Bewohner finden. Das ist die große Stunde des Wiederträumers Joel: Er richtet in seiner Wohnung ein Dormitorium ein und gibt jede Nacht einem Dutzend Menschen ihre Träume schöner zurück als sie je geträumt wurden. Mehr noch: Er mischt die Erinnerungen und Träume seiner Kunden und baut daraus witzige, abenteuerliche neue Träume, die er gegen Höchstgebot abgibt.

Dass ein Mensch die Träume oder Gedanken eines anderen lesen und umbauen kann, ist ein oft gebrauchtes Motiv in der neueren israelischen Literatur. Träume sind verrätselte Offenbarungen - so steht es bei Jesaja. Da ist es böse Ironie, wenn der Wiederträumer nur Seifenopern und Kinderängste zutage fördert und daraus unterhaltsame Abenteuer konstruiert. Genauso respekt- und skrupellos geht er mit den Erinnerungen um – eine heilige und gleichzeitig traumatische Angelegenheit in Israel. Während er seine Kunden süchtig macht, spielt sich in der Stadt eine – leider zu kolportagehaft geratene, aber komische – Politsatire ab mit kollabierenden Ämtern, Antisemitismus-Geschrei und dem Ruf nach dem rettenden jüdischen Genie. Sie lässt sich als bitter-sarkastische Deutung des ganzen Wiederträumer-Geschäfts lesen.

Nir Baram erzählt in Rückblenden und Abschweifungen. Der Leser findet sich in ein vielstimmiges Niemandsland zwischen Wachen, Träumen und Halluzinieren versetzt, in dem die israelische Gesellschaft gleichsam nackt erscheint: selbstgerecht, ängstlich, mitleidlos, aber auch melancholisch und schmerzerfahren. In einem grandiosen Streitgespräch zwischen Joel und Alon prallen alle Widersprüche aufeinander: Wo verläuft die Grenze zwischen Traum und Erinnerung? Wie eigensinnig und verlogen ist das Gedächtnis?

Den Spezialisten in seinem Traumlabor belustigen diese Fragen. Er weiß, wie leichtgläubig und stur das Bewusstsein ist: „Erinnern soll Verstehen sein? Das ist reichlich dumm. Jeder läuft mit seinen Märchen in der Welt herum, und wenn es keinen guten Grund gibt, sie in Frage zu stellen, dann stellt man sie eben nicht in Frage.“ Sein Credo: „Glauben ist nicht nötig. Du musst dich nur in deine Erlebnisse versenken, so bizarr sie auch sind.“ Für ein Land, das seit Jahrzehnten in einem nicht erklärten Krieg lebt, ein klares Fazit.

Nir Baram: Der Wiederträumer. Roman. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer u. Harry Oberländer. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 478 S., 24,90 €.

Nicole Henneberg

Zur Startseite