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Literatur: Nachbarn, Kollegen und Bürger

Wir gegen die Anderen: Michael Wildt über das NS-Konzept der „Volksgemeinschaft“

Volksgemeinschaft, schreibt Michael Wildt, ist mehr als nur eine rassisch strukturierte Gesellschaft. Sie ist auch ein Konzept zur Zerstörung der Zivilgesellschaft. Nicht selten haben nationalsozialistische Verbände, aber auch „rassebewusste Volksgenossen“, seit Beginn der Weimarer Republik, sich selbst ermächtigt, die Rechte ihrer Nachbarn und Kollegen außer Kraft zu setzen.

Es sei, sagt der Wissenschaftler vom Hamburger Institut für Sozialforschung, ein weit verbreitetes Missverständnis, Volksgemeinschaft lediglich als einen Prozess „sozialer Inklusion“ zu begreifen, der durch das Gleichheitsversprechen getragen werde. Die terroristische Dimension der Volksgemeinschaft (Konzentrationslager, GeStaPo und Pogrome), die „soziale Exklusion“ dürfe nicht unterschlagen werden. Keineswegs könne man behaupten, so hat Wildt erst kürzlich scharf gegen den Historiker Götz Aly argumentiert, der „Volksstaat“ Hitlers sei die Wurzel des bundesrepublikanischen Sozialstaats.

Michael Wildt stellt in seinem Buch einfache Fragen: Wie verliefen Angriffe auf Juden und ihre Organisationen? Wer war an ihnen beteiligt? Wie reagierten Opfer, Täter und Zuschauer? Trieben Verordnungen und Erlasse den Prozess voran oder waren es eher die NSDAP und der so genannte „kleine Mann“ selbst?

Das Ergebnis ist keine repräsentative, sondern eine exemplarische Studie, die im Detail den Ablauf von Angriffen auf Juden, ihre Organisationen und Einrichtungen vor allem in der deutschen Provinz analysiert. Wildt hat dazu Akten von Bürgermeistern, Landräten und Polizeibediensteten und nationalsozialistischen Basisgliederungen und die erst kürzlich wieder aufgefundenen Berichte des von 1893 bis 1938 existierenden Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) herangezogen.

Analysiert werden nicht nur Angriffe aus den Jahren 1933 bis 1939, sondern auch bereits Ausschreitungen seit dem Ende des 1. Weltkrieges, in dem das Konzept der Volksgemeinschaft (Ausspruch von Wilhelm II. am 1. August 1914: „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche“) als Form politischer Mobilisierung entstanden war. Bereits am 5. November 1923, nach der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen, wurde das Scheunenviertel Berlins Schauplatz schwerster Plünderungen und Verwüstungen jüdischer Geschäfte.

Im Unterschied zum Kaiser, der auch die jüdische Bevölkerung und die Sozialdemokratie hinter der Reichskriegsflagge sammeln wollte, verwendete die politische Rechte Weimars wie die Nationalsozialisten den Begriff Volk immer antisemitisch und rassistisch. Die Reinhaltung der Rasse war ihnen ausdrücklich nicht nur Staatsaufgabe, sondern eine Aufgabe der Volksgemeinschaft selbst.

Volksgemeinschaft verstanden, wie Wildt an unzähligen Beispielen demonstriert, Nachbarn, Kollegen und Bürger seit 1919 als Selbstermächtigung, Juden anzugreifen, ihre Geschäfte und Synagogen zu schänden und Menschen öffentlich anzuprangern. Überall, wo dies geschah, fanden sich zwar auch immer wieder (einige wenige) Zeichen der Zivilcourage. Die Zerstörung der Zivilgesellschaft verlief nicht reibungslos. Sie ging aber auch nicht ausschließlich von den Erlassen und Verordnungen der NSDAP und ihren Hilfswilligen aus. Kollegen und Nachbarn ermächtigten sich selbst, die Herstellung der Volksgemeinschaft durch gewaltsame Angriffe und Demütigungen von Juden und anderen in ihre eigenen Hände zu nehmen.

Michael Wildt ist durch eine Studie über das Reichssicherheitshauptamt („Generation des Unbedingten“) bekannt geworden. Er schreibt gegen die Verharmlosung des Volksgemeinschaftsbegriffs an, der heute noch Teil des NPD-Programms ist. Die Selbstermächtigung zur gewaltsamen Ausschließung von „Volksschädlingen“ gehört essenziell zur Idee der Volksgemeinschaft. Die von Götz Aly und anderen beschriebene „Konsensdiktatur“ Nationalsozialismus ist von der Selbstermächtigung zur gewaltsamen Ausschließung und Ermordung der Juden nicht zu trennen.



– Michael Wildt:
Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung – Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007.

412 Seiten, 28 Euro.

Martin Jander

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