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© ddp

Nachruf: Walter Kempowski: Der Geschichtstaucher

"Aufarbeiten, aufarbeiten, dass die Schwarten krachen" - so lautete bis in die letzten Lebenstage hinein das Arbeitsprogramm von Walter Kempowski. Er wollte zeigen, dass die Geschichte immer stärker ist als der Einzelne.

Walter Kempowski hat es genossen zu sterben. Das klingt befremdlich und bezieht sich ganz sicher nicht auf seine schwere Darmkrebserkrankung, auf die Fieberschübe, die Schmerzen, den verloren gegangenen Appetit, die Angst vor dem Tod. Aber dass in den vergangenen Monaten, da Kempowskis Tod absehbar war, zahlreiche Vertreter von Presse, Radio und Fernsehen sich auf den Weg in sein Domizil im niedersächsischen Nartum begaben, das hat dem jetzt in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gestorbenen Kempowski gefallen, das hat er selbst nach seinen noch verbliebenen Kräften gefördert. Von Punkt 15 Uhr bis 17 Uhr empfing er mehrmals in der Woche in seinen ausgedehnten Räumlichkeiten im Haus Kreienhoop, ließ sich über sein Leben und auf Nachfrage auch über den bevorstehenden Tod aus und machte kein Hehl daraus, in seinem Schriftstellerleben lange, lange Zeit unter mangelnder Anerkennung gelitten zu haben.

Trotzdem soll ihn in seinen letzten Lebensmonaten eine große Milde und Dankbarkeit ausgezeichnet haben, berichten langjährige Weggefährten, die ihn als etwas nörgeligen, oft unzufriedenen, stets schwierigen Schriftsteller erlebt hatten. Die Nähe des Todes, die vielen Besuche und nicht zuletzt die große Kempowski-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste in diesem Sommer dürften diesen charakterlichen Wandel mitherbeigeführt haben, abzulesen in den Dankesworten, die Kempowskis Sohn Karl-Friedrich für seinen kranken Vater bei der Ausstellungseröffnung verlas: „Die Bedeutung, die sie meinem Werk beimessen, hat mich überrascht, und die Liebe und Sorgfalt, die man der Realisation dieser Ausstellung angedeihen ließ, machen vieles gut.“

Allerdings sind „Überraschung“ und „Wiedergutmachung“ zwei Vokabeln, die zeigen, dass Kempowski es bis zuletzt nicht verwunden hat, lange Zeit als „Reaktionär“ bezeichnet worden zu sein, als „Unterhaltungsschriftsteller“ mit Neigung zur Schönfärberei in Sachen deutsche Vergangenheit und Schuld, weil er sich in seinen Büchern durchaus humorig mit den Themen Heimat, Vertreibung und Flucht der Deutschen auseinandergesetzt hatte.

Dass ein Schriftsteller wie Günter Grass als Tabubrecher gefeiert wurde, als er sich mit seinem Buch „Im Krebsgang“ mit demselben Themenkomplex befasste und damit auch jüngere Autoren animierte, sich der Vergangenheit ihrer Großeltern zuzuwenden, das wurmte Kempowski. Und schließlich bestätigte das Waffen-SS-Geständnis von Grass ihn zusätzlich in seiner Einschätzung des übermächtigen Konkurrenten: „Ja, Grass, unser SS-Mann. Dass die Leute den nicht links liegen lassen und ihm noch auf die Schulter klopfen. Ich habe auch vor dem Tisch der SS-Werber gestanden. Und ich habe Nein gesagt!“

Von seinem ersten Buch an, dem Bautzener Erfahrungsbericht „Im Block“ aus dem Jahr 1969, stemmte sich Walter Kempowski gegen das Vergessen der Nazizeit und ihrer Folgen für das geteilte oder später wiedervereinigte Deutschland. Dabei schuf er ein großformatiges Erinnerungswerk, das in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur seinesgleichen sucht. „Aufarbeiten, aufarbeiten, dass die Schwarten krachen“, so formulierte Kempowski in dem Tagebuchband „Hamit“ sein Arbeits- und Lebensprogramm. Tatsächlich hat er bis zuletzt an mehreren Projekten gleichzeitig gearbeitet, an zwei zur Veröffentlichung anstehenden Tagebüchern, einem Gedichtband, einer Autobiografie und einem ausufernden Werk aus sogenannten Erzählkristallen unzähliger von Kempowski befragter Menschen.

Der Tag, an dem für Walter Kempowski das Aufarbeiten begann und sein Leben die entscheidende Wendung nahm, war der 8. März 1948. An diesem Tag wurde der damals 18-Jährige von vier sowjetischen Besatzungssoldaten in seiner Heimatstadt Rostock verhaftet, wegen Spionage, wegen des Weitergebens von Frachtpapieren der väterlichen Reederei an die Amerikaner, für die Kempowski kurz vorher in Wiesbaden tätig war. „Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich“, so beginnt „Im Block“ und so endet auch der Roman „Uns geht’s ja noch gold“, der 1972 veröffentlicht wurde.

Bevor Kempowski überhaupt wieder etwas vermelden konnte, vergingen acht Jahre in Bautzen, die ihn schwer ankamen, die ihn einen Selbstmordversuch unternehmen ließen, die aus Hunger, Kälte, Einsamkeit und Schikanen bestanden. Kempowski sollte diese Jahre später dennoch auch als „Glücksfall“ oder „Segen“ bezeichnen. Denn ohne die Haft in Bautzen, das hat er oft betont, wäre er nicht Schriftsteller geworden, hätte er alle seine Bücher nicht schreiben können.

Bautzen diente ihm, der 1929 geboren wurde und in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegsjahre weder das Abitur ablegen noch eine Ausbildung beginnen konnte, als Lehrzeit. Hier las er Dantes „Göttliche Komödie“ und Shakespeares Königsdramen, hier betätigte er sich als Theaterdichter und -regisseur, hier war er Chorleiter. Und hier liegt der Ursprung seines gesamten Werks, nicht zuletzt des „Echolots“, Kempowskis vielstimmig-collagiertem, siebentausend Seiten, zehn Bände umfassendem und 2003 abgeschlossenem Opus magnum. „Ich begann mit dem Einsammeln der Schicksale schon in Bautzen, das Belauschen der Gespräche, das Geraune“, notiert Kempowski später, und dieses Sammeln von Schicksalen, dieses Sammeln von Schriften, Fotos und vielen Gegenständen des alltäglichen Lebens, wird schließlich einerseits zu seiner Obsession und andererseits zum Prinzip seiner Literatur.

So stehen sie auch komplementär zueinander, die beiden großen und wichtigsten Bausteine seines Werkes, der sechsbändige Romanzyklus „Deutsche Chronik“ und das „Echolot“. In der „Chronik“, in Romanen wie „Tadellöser & Wolff“, „Uns geht’s ja noch gold“, „Ein Kapitel für sich“ oder „Aus großer Zeit“ schildert Kempowski den Niedergang und die mühsame Wiederauferstehung des deutschen Bürgertums am Beispiel der eigenen Familie von 1885 bis 1960.

Diese Romane bestehen aus vielen kleinen Textblöcken und Erzähleinheiten. Diese aber sind nicht einfach so hingeworfen, sondern ordnen sich zu einer gezielten Erzähllogik. „Ich hebe Erzählpartikel auf, wo immer ich sie finde. Die kleinen Goldstücke am Ärmel blank reiben und sie einfügen in das große Bild“, hat Kempowski seine Arbeitsweise einmal beschrieben. Dazu gehört auch, dass die allesamt seiner Familie und deren Umfeld entstammenden Figuren Kempowskis sich nie selbst erklären, sie ohne reflektierende Bewusstseinsströme auskommen, sie sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Basiert die „Deutsche Chronik“ auf der Perspektive einer einzelnen deutschen Familie, in der sich die deutsche Geschichte spiegelt, so kommen im „Echolot“ viele unterschiedliche Stimmen zu Wort. Prominente und völlig unbekannte Menschen erzählen, wie es war zwischen 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion angriff, und 1945, als es im Mai zu Kapitulation und Waffenstillstand kam. Obwohl Kempowski hier als Autor hinter sein Material zurücktritt, stellt das „Echolot“ eine literarische Meisterleistung ganz eigener Art dar. Kempowski schafft es, aus dem überreichen Schatz der von ihm gesammelten Biografien, einen Erzählfluss herzustellen. Er stiftet Sinnzusammenhänge, verknüpft den großen, historischen Irrsinn mit dem zutiefst Banalen, schält große und kleine Motive heraus und vermag es, gleich den großen modernen Autoren wie James Joyce oder Marcel Proust, in die Tiefe der Zeit zu zeigen.

Mit dem „Echolot“, dessen erster Band 1993 herauskam, wurde Kempowski erst die Anerkennung zuteil, die ihm die literarische Öffentlichkeit bis dahin verweigert hatte. Das Publikum war zwar auf seiner Seite, hatte insbesondere die von Eberhard Fechner verfilmten Romane der „Deutschen Chronik“ in sein Herz geschlossen. Die Literaturkritik aber tat sich schwer mit Kempowski. Der Kritiker Joachim Kaiser bezeichnete in einem Gutachten für den Rowohlt-Verlag Kempowskis erste „Im Block“-Entwürfe als „phantasievolle Prosa eines mehr oder minder begabten Dilettanten“, und in der Folge warf man Kempowski häufig vor, lediglich ein Buchhalter der deutschen Geschichte zu sein, einer, der nicht erzählen, der „keine Gesichter“ beschreiben, „keine Charaktere“ darstellen könne.

Kempowski wurde als Unterhaltungsschriftsteller für das Kleinbürgertum missverstanden, ein die Nazizeit und die Verbrechen der Deutschen verharmlosender Autor, der unbeirrbar an der Wiedervereinigung festhielt.

Sosehr Kempowski unter diesen Anfeindungen gelitten hat, was ihn ja nicht groß unterscheidet von einem Günter Grass oder Martin Walser und vielen anderen von der Literaturkritik abgrundtief Verletzten, so wenig hat er sich in seinem Tun beirren lassen, in seinem nie zu stillenden Verlangen, Schuld abzutragen: die Schuld, die Familie zerstört zu haben („… nun suche ich sie auf Papier wieder zusammenzubauen“), insbesondere schuldig zu sein an der Gefängnishaft der Mutter, da er den Russen erzählt hatte, auch sie hätte von seiner vermeintlichen Spionagetätigkeit gewusst. Dann die Schuld, Krieg und Nachkrieg überlebt zu haben. Und die Schuld der Deutschen zwischen 1933 und 1945 überhaupt.

Er hat es in Kauf genommen, als Schriftsteller mit vielerlei Macken zu gelten, ja, als „querulatorisch“, ohne sich allerdings jemals vor einen politischen Karren spannen zu lassen. Gerade in seinen Tagebüchern „Alkor“, „Sirius“ und „Hamit“ lässt sich gut herauslesen, wie es um seine zumeist stabile Psyche bestellt war, wie es um sein Ich und seine diversen Unter-Ichs stand. Hier gibt er sich offen als Bürger und vor allem Kleinbürger, hier ist er glühender Antikommunist genauso wie scharfer CDU-Kritiker, hier ist er der Mann mit den schlottrigen Anzügen und der Aktentasche, der einstige kleine Volksschullehrer, der sich an einem Spiegelei genauso zu delektieren weiß wie er bedenkenswerte Sentenzen von sich gibt: „Je mehr Mahnmale, desto weniger fühlen sich die Menschen betroffen. Jedes Denkmal legt Erinnerungen für immer ad acta.“

Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung setzten sein Werk historisch ins Recht. Und sie bescherten ihm ein Wiedersehen mit Rostock und Bautzen und ließen ihn zu der Einsicht gelangen, dass sich eines Tages beide Städte vielleicht doch einmal für ihn „aus-gedacht“ hätten. Tagebuch aber hat er weiterhin geschrieben, er hat gesammelt, hat das „Echolot“ beendet und die sogenannte zweite Deutsche Chronik mit mehreren Romanen fortgeschrieben, und als manischer Medienkonsument hat er geradezu hysterisch am Weltgeschehen teilgenommen, frei nach dem Motto: „Im U-Boot durch die Weltmeere fahren, immer am Periskop.“

Es liegt einerseits eine gewisse Tragik darin, dass Kempowski gar nicht aufhören konnte, dass es mit dem Aufarbeiten und dem Schuldabtragen bis in die letzten Lebenstage kein Ende hatte. Andererseits war dieses unaufhörliche Sammeln, Archivieren und Weiterarbeiten nur konsequent: Kempowski wollte aufzeigen, dass die Geschichte immer stärker und dominanter ist als der Einzelne, dass sie das Leben eines jeden noch in den verstecktesten Regungen mitbeeinflusst.

Kempowskis gar nicht hoch genug zu würdigende große literarische Leistung ist es, als genuin narzisstischer Autor hinter der Geschichte und den vielen individuellen Geschichten bewusst zu verschwinden, um sie umso besser sichtbar machen zu können, wie im „Echolot“. Und sich selbst und die Geschichte der Kempowski-Familie vor dem Hintergrund der großen, der Welt-Geschichte noch einmal aus der Perspektive eines Fremden zu betrachten, wie in den Romanen und den Tagebüchern.

Als ihm die Stadt Rostock 2004 seinen 75. Geburtstag ausrichtete, bedankte sich Kempowski mit den Worten: „Grass in Lübeck, Koeppen in Greifswald und ich mittendrin in Rostock, das klingt nicht schlecht.“ Doch aus seinem Munde und in Anbetracht seines Werkes klang dieser Vergleich vor allem: bescheiden.

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