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Nationalsozialismus: 3000 Seiten und Blondi im Register

Informativ, aber nicht immer konzise: Richard J. Evans schließt sein Standardwerk zur NS-Zeit ab.

Richard Evans ist einer der besten Kenner der deutschen Geschichte. Im Prozess, den der Holocaust- Leugner David Irving gegen die Historikerin Deborah Lipstadt anstrengte und verlor, war Evans Hauptgutachter. Anschließend erhielt er von Lipstadts Verlag Penguin Books die Gelegenheit, eine Gesamtdarstellung der NS-Zeit vorzulegen. 2000 Seiten sollten es werden, 3000 sind es geworden. Dennoch bleibt der Autor bei seinem Anspruch, seine nunmehr abgeschlossene Darstellung richte sich an „Leserinnen und Leser, die nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gerne mehr erfahren möchten“. Er betont im Vorwort zum dritten Band, das Buch solle von Anfang bis Ende gelesen werden, was für den noch wenig Informierten eine anspruchsvolle Aufgabe ist.

Evans entfaltet das Geschehen der Jahre von 1939 bis 1945 in einem breiten Erzählfluss. Er bewegt sich in den Bahnen traditioneller Darstellungsweisen und will uns nahebringen, wie es eigentlich gewesen ist. Die sieben Kapitel seines Buches sind jeweils etwa 140 Seiten lang, sechs von ihnen sind dem Kriegsgeschehen gewidmet, das siebte heißt „Deutsche Ethik“ (im Original „German morality“). Hier geht es um die deutsche Gesellschaft im Krieg: Alltag, Kultur und Wissenschaft und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dieses Kapitel zeigt exemplarisch die Stärken und Schwächen des Autors. Evans’ besondere Stärke liegt in der Alltagsgeschichte. Er hat bedeutende Bücher zur Geschichte der Todesstrafe, der deutschen Frauenbewegung und der Choleraepidemie in Hamburg vorgelegt. Wo es um den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland geht, gelingen ihm temporeiche und atmosphärisch dichte Erzählungen. Sehr viel weniger überzeugend fällt die analytische Durchdringung des ausgebreiteten Stoffes aus. Dem Autor fehlt ein heuristisches Instrumentarium. Begriffe wie Totalitarismus, Polykratie oder Modernisierung sucht man im Sachregister vergebens. Dafür findet man Lili Marleen und „Blondi (Hitlers Schäferhund)“.

Saul Friedländer hat in seiner monumentalen Darstellung „Das Dritte Reich und die Juden“ eindrucksvoll sein Konzept einer integrierten Geschichte realisiert, die Täter, Opfer und Zuschauer gleichermaßen in den Blick nimmt. Er hat dafür eine Fülle autobiografischer Aufzeichnungen ausgewertet. Auch Evans lässt Täter und „Betroffene“, gemeint sind die Opfer, zu Wort kommen. Der Autor schöpft dabei allerdings nicht aus einer breiten Lektüre. Die meisten Quellenzitate werden in zweiter oder dritter Zitierung wiedergegeben, was dazu führt, dass viele der in den Text eingestreuten Zitate aus anderen Darstellungen bereits bekannt sind. Selbst die Dokumentenbände des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses hat der Autor nicht selbst in der Hand gehabt, sondern zitiert sie nach der Literatur. Die neuere Forschung hat Evans nur partiell rezipiert, was wohl einer der Gründe dafür ist, dass er manches verzeichnet. Intensiv ausgewertet hat er die Arbeiten des in Großbritannien lehrenden Holocaust-Forschers Peter Longerich, der allein in dem Kapitel über die Endlösung fast 50-mal zitiert wird.

Richard Evans nennt in seinem Vorwort nicht weniger als sechs Mitarbeiter, die für ihn den Anmerkungsapparat zusammengestellt haben. Die Koordination zwischen der Erzählung und den Nachweisen ist dennoch nicht immer ohne Probleme. So schreibt Evans auf Seite 242: „Das Amt Rosenberg hatte geplant, einige der Nationalitäten der Sowjetunion im Osten, insbesondere die Ukrainer, als Gegengewicht zu den Russen zu kooptieren.“ Abgesehen davon, dass die Ukraine nicht im Osten, sondern im Westen der Sowjetunion lag, war das Amt Rosenberg eine innerstaatliche Überwachungsbehörde, die mit den Planungen in Osteuropa rein gar nichts zu tun hatte. Gemeint ist hier wohl das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, dem Rosenberg ebenfalls vorstand. Die kuriose Vorstellung, man könne Nationalitäten kooptieren, ist wohl eher der oft schwer verdaulichen Übersetzung zu verdanken.

Richard Evans beginnt mit der deutschen Invasion in Polen im September 1939. Der Ferne Osten, wo der Zweite Weltkrieg schon 1938 begann, kommt in seinem Buch nicht vor. Evans macht deutlich, dass die deutsche Kriegsführung und das Ziel der Vernichtung des europäischen Judentums von Anfang an miteinander verschränkt waren. Das ist früher häufig übersehen worden, weil die systematischen Vergasungen in den Vernichtungslagern erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 begannen. Von den sechs Millionen ermordeten Juden waren aber drei Millionen polnischer Nationalität. Evans widmet deshalb mit Recht dem Angriff auf Polen genauso viel Aufmerksamkeit wie dem Krieg auf sowjetischem Boden, an den wir stets denken, wenn wir von der Ostfront sprechen. Er zeigt, dass auch der damals von vielen Deutschen bejubelte Blitzkrieg ein Bestandteil des rassenideologischen Vernichtungskrieges war. Konsequent schlägt sich Evans auch gegen die strukturalistische Denkschule, wie sie etwa von Hans Mommsen vertreten wird, auf die Seite derjenigen, die von einer Intentionalität des Vernichtungsgeschehens ausgehen, einer Intentionalität, deren zentrale Instanz Adolf Hitler war. Sehr viel weniger deutlich positioniert sich der Autor in der Frage des Zeitpunkts der Entschlussbildung, die in den letzten Jahren unter anderen von Christopher Browning, Christian Gerlach und Peter Longerich intensiv diskutiert worden ist. Die wichtigen Arbeiten von Philippe Burrin erscheinen nicht einmal in der Bibliografie.

In den letzten Jahren ist immer deutlicher geworden, dass in den Kriegsjahren Albert Speer neben Hitler, Himmler, Göring und Goebbels die zentrale Figur des nationalsozialistischen Regimes war. Ohne ihn wäre die deutsche Kriegsmaschinerie schwerlich zu den Höchstleistungen in der Lage gewesen, die die unvermeidliche Niederlage bis zum Frühjahr 1945 hinauszögerten. Evans lässt Speers Rolle deutlich werden und räumt der Kriegswirtschaft den ihr zukommenden breiten Raum ein. Auch die im Schlusskapitel getroffene Feststellung, Speer sei wegen seines gewandten gutbürgerlichen Auftretens, zu dem im Übrigen auch fein dosierte Reuebekundungen gehörten, in Nürnberg mit 20 Jahren Gefängnis davongekommen, ist völlig zutreffend. Wenn man dann anschließend liest, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel sei vom Internationalen Militärgerichtshof dagegen deshalb zum Tode verurteilt worden, weil er ein „grobes Image“ hatte, fragt man sich einmal mehr, wer wohl diese Übersetzung lektoriert hat.

Mit wachsendem zeitlichem Abstand ist die Forschung über den Nationalsozialismus immer intensiver geworden und gerade in den letzten Jahren geradezu explosionsartig angewachsen. Dabei gibt es eine unübersehbare Tendenz zu immer umfangreicheren Büchern. Die 900 Seiten, die Adam Tooze für seine vorzügliche Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus benötigte, bilden da geradezu schon die Untergrenze. Ian Kershaw hat über Hitler 2300 Seiten vorgelegt, Saul Friedländer über die Judenvernichtung 1300 Seiten. Und diese hervorragenden Arbeiten bilden bei aller Bedeutung ihres Gegenstands nur Teilaspekte der NS-Geschichte ab. Da wird man Richard Evans schwerlich den Umfang seines Werkes vorhalten können. Seine umfassende, in vielem informative, wenn auch nicht immer konzise Darstellung ergänzt nun die Reihe der Standardwerke.

– Richard J. Evans: Das Dritte Reich, Band III – Krieg. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 1152 Seiten, 49,95 Euro.

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