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Friedrich Nietzsche

© ddp

Philosophie: Tanz auf dem Gedankenstrich

Heinz Schlaffer untersucht die Stilmittel des Philosophen Friedrich Nietzsche.

Wer wäre beim Lesen philosophischer Texte nicht schon daran verzweifelt, wie schwer sich das Bollwerk aus Gelehrsamkeit und Umstandskrämerei durchdringen lässt, das Philosophen zuweilen noch um den kleinsten Gedanken errichten? Bei einem ist das garantiert anders, bei Friedrich Nietzsche. Auch wenn er den Leser über Berg und Tal führt, über Stock und Stein, so nimmt er ihn immer an der Hand und gibt ihm die nötige Wegzehrung mit: geballte Energie, die aus der Sprache kommt. Nietzsche war sich seines Mediums bewusst. Je überzeugender die sprachliche Form, so glaubte er, desto überzeugender der Gedanke. Und Nietzsche wollte Wirkung. Seine Leser sollten vergessen, dass sie lesen.

Wie das geht, lernte er beim Studium der antiken Rhetorik. In seinem ersten Buch, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872), verfolgte er die Idee, dass die Wirkung der antiken Tragödie nicht auf dem Bedeutungsgehalt der Texte beruhe, sondern auf dem, was sie begleitet: Musik, Tanz, Gesang und körperliche Präsenz. Genau diese Elemente versuchte er in sein Schreiben zu integrieren. Es sollte „Tanz“ sein, durch Rhythmus, Melodie und Prosodie das Gefühl von Präsenz erzeugen. Mit anderen Worten: Nietzsches Stil zielt darauf, die Schrift so weit wie möglich dem Mündlichen anzunähern. Aus dieser illusionären Präsenz speist sich seine sprachliche Verführungskraft.

Auch Heinz Schlaffer, der vor fünf Jahren mit „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ für heftige Debatten gesorgt hat, ist ein Verführer. Er aber huldigt eher dem vornehmen Stil französischer clarté. Mit Wertungen hält er sich zurück. Doch natürlich will man wissen, auf welcher Seite Schlaffer steht: pro oder contra Nietzsche. Der Stuttgarter Emeritus gibt sich zunächst betont arglos. Er halte die Zeit für gekommen, dass man sich der Sprachkunst Nietzsches unvoreingenommen nähern könne: „Der heutige Leser sollte das Ärgernis ertragen, dass vollkommene Schönheit ein Mittel der Zerstörung sein kann, sein will. Nach der politisch-militärischen Niederlage, die der Ausgang des Zweiten Weltkriegs den Anwendern Nietzsches beibrachte, darf sich – mit unverdienter Gelassenheit – das ästhetische Vergnügen heutiger Leser jener Sprachkunst aussetzen, die Nietzsche nicht nur zum ästhetischen Vergnügen entfesselt hatte.“

Ganz so einfach ist es freilich nicht. Dass man sich heute wieder an Nietzsches Sprachkunst delektieren kann, ist auch dem philologischen Umweg geschuldet, den Nietzsche über Italien und Frankreich zurück nach Deutschland nahm, also der Editionsarbeit von Giorgio Colli und Mazzino Montinari sowie den Exegesen der französischen Poststrukturalisten. Schon Mitte der achtziger Jahre gab es einen Band mit Aufsätzen, der „Nietzsche aus Frankreich“ nach Deutschland reimportierte; auch Peter Sloterdijk hat zur selben Zeit mit „Der Denker auf der Bühne“ ein anderes Nietzsche-Bild entworfen.

Schlaffers Verdienst ist es, Nietzsches Stilmittel so kompakt wie nie zuvor darzustellen. Dass die Form, die Nietzsche wählt, schön ist, weil sie „auf das Leben wirken will“, ist richtig beobachtet. Ebenso einleuchtend ist die Behauptung, dass wir uns in einer Phase der Nietzsche-Rezeption befinden, die den Übersprung vom Wort zur Tat eher wieder umkehrt. Nietzsche ist nicht mehr „Dynamit“, wie er sich selbst wünschte, er ist „in die Grenzen des Buchs“ zurückgekehrt. Sein Werk kann „einem gelehrten Exzess von Lektüre, der Stilanalyse, dienen“.

Das mag manchem Leser zu wenig erscheinen. Aber wer bereit ist, mit spitzem Bleistift und wachem Geist zu lesen, wird überall Anschlussstellen finden, die über den Essay hinausweisen. Leben wir nicht in einer Kultur, die im Begriff ist, die Dominanz des Schriftlichen abzulegen? Gibt es nicht den Wunsch nach einer Rückkehr zu mehr Lebendigkeit in der Schrift, und ist es nicht genau das, was uns amerikanische Literatur wertschätzen lässt und was sich beim Schreiben von E-Mails und SMS vollzieht?

Schlaffers Verfahren ist ergiebig, wenn auch nicht unproblematisch. Er nimmt einen späten, kurz vor Ausbruch des Wahnsinns erschienenen Text, eine Passage aus dem Vorwort zu „Der Fall Wagner“ (1888), druckt ihn in der von Nietzsche autorisierten Erscheinungsform ab und analysiert dessen Stilmittel minutiös: von der grafischen Anordnung, die sich Nietzsche wie eine „Bildsäule“ – also räumlich – vorstellte, bis hin zu den Satzzeichen. Nietzsches Schriften sind gespickt mit Gedankenstrichen, Punkten, Kommata, Strichpunkten, mit Ausrufezeichen, Fragezeichen, Klammern.

Sie sollten den Leser lenken, ihn aufmerksam machen, den Lesefluss stauen, ihn anfeuern oder aus dem Tritt bringen. So als ließen sich Stimme und Gesten der lebendigen Rede in die Schrift übersetzen. Man spürt bei der Lektüre seine imaginäre Präsenz und auch die Anstrengung, die ihn jeder einzelne Gedanke gekostet haben mag. Nietzsches Schrift will mehr sein als Philosophie, ein Theater der Gedanken, ein Gesamtkunstwerk, dessen Konzept verraten zu haben er Wagner vorwirft.

Nietzsche befreite die reflektierende Prosa vom gravitätischen Voranschreiten im Dienst des Arguments. Sie ist sprunghaft, assoziativ. Und vor allem bedient sie sich poetischer Mittel. Rhythmus, Klang, Bildlichkeit und Strukturen der Wiederholung – alles, was man gewöhnlich dem Gedicht zuschreibt, überträgt Nietzsche auf die Prosa. „Die Poetisierung der philosophischen Prosa gehört zu Nietzsches Kunst der Verführung.“ Doch der Trick ist, diese poetisierte Prosa zugleich natürlich erscheinen zu lassen, durch bewusste Nachlässigkeiten im Satzbau. Erst die Imitation der „Kunstlosigkeit wirklich gesprochener Sätze“ macht Nietzsches Stil zu dem, was er ist: Ausdruck des Wunsches, „mit Hilfe der Schrift über die Grenzen der Schrift hinauszugelangen“.

Ein Wermutstropfen bleibt. Ist es wirklich statthaft, Nietzsches Stil gerade an einem Text zu exemplifizieren, der alles, was einmal mit Maß und Ziel geschah, übertrieb, ja übertreiben musste? Sicherlich kann man so kurz vor dem Ausbruch des Wahnsinns alle Gefährdungen seines Stils am besten erkennen. Aber warum sind sie so wichtig? Wohin das führen kann und geführt hat, wissen wir längst. Schlaffer will seinen eigenen Stil einer wohltemperierten, leicht skeptischen Tonlage als goldenen Mittelweg profilieren, der zwischen dem „großen Stil“ und der „bescheideneren Sprache“, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat, elegant in die Zukunft führt. Doch es führen bekanntlich viele Wege nach Rom. Und es wäre schade, die offene Form des Essays schon wieder zu verschließen. Da ist Platz genug für die unterschiedlichsten Schreibtemperamente.

Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. Hanser , München 2007. 224 Seiten, 19,90 €.

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