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Leipzig

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Politische Literatur: Das Werk des großen Lümmels

Aus dem Herzen des Geschehens: Ehrhart Neuberts eindrucksvolle Erzählung der Revolution 1989/90 - einer explosionsartigen Entfaltung einer Zivilgesellschaft.

Der große Umbruch des Herbstes 1989 ist längst Geschichte geworden. Umso mehr wird es zum Problem, dass er zwar eine Flut von Dokumentationen und Forschungen ausgelöst hat, die der DDR-Vergangenheit bis in ihre äußersten Winkel nachgehen und mittlerweile Bibliotheken füllen, aber keinen Versuch, diesen großen Vorgang als Ganzes zu erzählen, also: ihn als Geschichte festzuhalten. Das wird sich vermutlich im nächsten Jahr ändern. Denn dann kommt, angeschoben von der zwanzigsten Wiederkehr der Herbstrevolution, eine Woge von Büchern, Dokumentationen und Filmen auf uns zu. Ein Vorbote dieser nicht ganz ohne gemischte Gefühle erwarteten Invasion ist schon da – und, siehe da, er ist eindrucksvoll gelungen.

Denn Ehrhart Neubert, Zeitzeuge und Zeithistoriker in einem, ist es geglückt, mit seiner Geschichte der Jahre 1989/90, die den Titel „Unsere Revolution“ trägt, das Faszinierende dieses Ereignisses zu vermitteln: Wie aus kleinen Wurzeln des Widerstehens und einer großen Unzufriedenheit eine Bewegung wird, die schließlich ein System zum Einsturz bringt. Er schreibt kein Heldenlied, aber er macht – was viel mehr ist – nachvollziehbar, wie Geschichte, wie diese Geschichte, entstand, deren Zeuge wir zum guten Teil waren. Und lässt spüren, was er die „außerordentliche Verdichtung der Zeit“ nennt: die Beschleunigung des Geschehens, seine Dynamik, seine überwältigende Wirkung.

Der Autor greift tief hinein in die Fülle des Geschehens. Es ist dessen tausendfüßlerischer Ablauf, der in seiner ganzen Vielschichtigkeit dieses Buch trägt. Er rückt die Hauptplätze ins Bild, Leipzig, Berlin, Dresden, aber auch die Kleinstädte in Thüringen oder Mecklenburg. Er findet den Stoff seiner Erzählung in den Papieren der Opposition wie in den Berichten der Stasi. Er zitiert die Losungen, mit denen die Demonstranten die Staatsmacht herausforderten, und die Gelegenheitsgedichte, die eine dazu gehörende, ganz eigentümliche Revolutionsfolklore bildeten. Doch zugleich sucht und findet er – wie er die Logik seiner Darstellung umschreibt – den „Weg aus dem Labyrinth der Wahrnehmung in eine übersichtliche Konstruktion der Wirklichkeit“.

Den Ausgangspunkt bildet die Situation der Jahre 1987/88, in denen die DDR ein stabiler Faktor des Ostblocks zu sein schien, und der doch zugleich der Zeitraum war, von dem an – wie Neubert schreibt – die „Fragilität“ des über die Jahrzehnte hinweg eingeübten Arrangements zwischen Staat und Bürgern unübersehbar wurde – „die Risse reichten bis in die SED hinein“. In dieser zwiespältigen Lage, in einer „Gesellschaft auf der Flucht“ – wie ein doppelsinniger Zwischentitel heißt –, entsteht das Potenzial für einen beispielhaften Aufbruch. Neubert bringt es am Beispiel Leipzigs Anfang September 1989 auf den Punkt: „5000 Ausreiseantragsteller, eine höchst aktive Opposition, eine geistig bewegliche Pfarrerschaft mit ihren unruhigen Gemeinden, eine massenweise Unzufriedenheit in der Bevölkerung sowie viele verunsicherte Mitglieder in der SED.“ Dagegen steht der Herrschaftsapparat, noch intakt und entschlossen, der Unruhe Herr zu werden.

Der Weg, der von hier aus zur Revolution führt, wird in Neuberts Beschreibung zu einem Spannungsbogen von hoher Dramatik. In ihm verbinden sich Resolutionen, die auf Reformen drängen, der „Kampf um die Straße“, geführt mit Demonstrationen, der zündende Ruf „Wir sind das Volk“, mit dem die Bevölkerung in die Offensive geht. Er lässt ihn in einem von Tag zu Tag sich steigernden „Revolutionskalender“ der ersten Oktoberwoche gipfeln, Höhepunkt der 9. Oktober in Leipzig mit der historischen 70 000-Teilnehmer-Demonstration. Er sieht dabei übrigens kein Einlenken der SED, schon gar keine Einsicht, und selbst der berühmte „Aufruf der Sechs“ wird niedriger gehängt. Es wurde nicht geschossen, so Neubert, weil die unerwartet große Menge „ihre Geschichte, ihre Entschlossenheit und ihre Erfahrungen mitbrachte und so auf eine subtile Weise auch auf diejenigen einwirkten, die sie von der Straße verjagen sollten“.

Folgt, dank der Darstellungskraft des Autors, sozusagen Schlag auf Schlag die stürmische Entwicklung dieses Herbstes. Neubert akzentuiert den Oktober, der Mauerfall am 9. November erscheint nicht als Urereignis, sondern als die „zur Gegenwart gewordene Vorgeschichte“. Wie überhaupt das Bild vom Gang der Dinge sich durch seine Sicht verschiebt. Großes Gewicht liegt auf der „fast explosionsartigen Entfaltung einer Zivilgesellschaft“, die „einem Aufatmen nach Jahrzehnten des Erstickens aller freien gesellschaftlichen Bewegungen“ glich. Eindringlich, auch mit großer Einfühlung beschreibt er das Entstehen einer neuen Öffentlichkeit aus dem Gegeneinander des Aufbegehrens und der Gegenmacht der Staatsmacht, die mit Druck und politischen Winkelzügen dagegenhielt. Möglicherweise steckt in dem Herausmodellieren dieser „Herbstgesellschaft“ der wichtigste Beitrag des Buches zur Rekonstruktion der friedlichen Revolution.

Neuberts kluge Verteidigung dieses Begriffs für den Epochenumbruch der Jahre 1989/90 hat damit zu tun. Gestützt auf die Revolutionstheorie von Hannah Arendt begreift er ihn als Ausdruck für die „Selbstermächtigung der Gesellschaft“, in der er den wichtigsten Grund für die „unerhörte Begebenheit“ (Wolf Lepenies) dieses Umbruchs am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erkennt. Da scheint der enthusiastische, vom Nachhall des großen Erlebnisses getragene Urgrund von Neuberts Buches auf: „Der eigentliche Beweger war das Volk, der große Lümmel“, heißt es einmal, mit kessem Heine-Ton, und die Spur davon ist ebenso in seiner Beschreibung des deutsch-deutschen Einigungsprozesses wie in seinen internationalen Entsprechungen zu entdecken.

Aber schließlich war Neubert, Mitgründer des „Demokratischen Aufbruchs“ und Mitinitiator des zentralen Runden Tischs, selbst dabei. Nicht nur am Rande, sondern so, dass er gelegentlich bei der Aufzählung der Teilnehmer diverser Treffen nicht umhin kann, sich selbst mit einem bescheidenen „und ich“ in sein Buch einzuführen. Dieser Charakter, „teilnehmende Beobachtung“ im klassischen Sinne, schadet dem Buch keineswegs. Er gibt ihm vielmehr seine animierende Lebendigkeit und bezwingende Authentizität. Überdies ist Neubert ein reflektierender Autor, der die ihm zugängliche Erfahrungsfülle mit eindringlichen Gedanken durchknetet. Erstaunlich sicher hält er die Balance zwischen den großen Linien des Geschehens und dessen Graswurzel-Dimension. Und da aus Neuberts Bericht auch immer wieder anrührend der Atem dieser Wochen und Monate aufsteigt, ruft das Buch auch die Zeit ins Gedächtnis der Zeitgenossen zurück, die dem Schicksal der Deutschen eine so unerwartete Wendung gegeben hat.

Dennoch: Die mit dem Titel stolz aufgerufene „Unsere Revolution“ bleibt eben doch das Eigentum der DDR-Bürger, es ist ihre Revolution. Dabei lässt Neubert dem Westen durchaus Gerechtigkeit widerfahren. Die Revolution sei die Leistung des Ostens gewesen, aber der Westen habe – über die vielfältige, vor allem materielle Unterstützung hinaus – die „Architektur der postrevolutionären Ordnung“ geliefert, „wenn auch nicht unumstritten“. Doch gemessen an dem gewaltigen Explosions- und Implosionsprozess des ostdeutschen Aufbruchs wirken die Operationen auf der Ebene von Währungsunion, Einheitsvertrag und Zwei- plus-Vier-Vertrag, die daraus das neue, vereinigte Deutschland machten, fast wie ein Seitenstück. Das liegt, gewiss, auch an dem Vorgang selbst, und es täte ihm gut, ihn auch aus der politisch-diplomatischen Ebene heraus zu sehen (wie das Claus J. Duisberg in „Das deutsche Jahr“, erschienen 2005 im wjs-Verlag, getan hat). Aber es hängt auch damit zusammen, dass Neubert mit seiner Erzählung der friedlichen Revolution wirklich Geschichte von unten geschrieben hat: aus dem Inneren, ja, dem Herzen des Geschehens heraus.

– Ehrhart Neubert: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. Piper Verlag, München 2008 (mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der Vergangenheit). 520 Seiten, 24,90 Euro.

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