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Politische Literatur: Erkundungsfahrt durch den Pflegenotstand:

Claus Fussek und Gottlob Schober schlagen Alarm: In ihrem Buch "Im Netz der Pflegemafia" informieren sie über Verwahrlosungen, Lieblosigkeiten und Menschenrechtsverletzungen in der Pflege.

Die Regale reichen bis zur Decke. Sie sind rechts und links, sie sind hinten und vorne. Aktenordner stehen darin, stapeln sich kreuz und quer. Aktenordner voller Katastrophen. Sie tragen Aufschriften wie „Missstände 2001“, „Missstände 2002“, „Missstände 2004“.

Es ist das Münchner Büro von Claus Fussek, dem bekanntesten und scharfzüngigsten Kritiker des deutschen Pflegesystems. In den Ordnern sammelt er, was ihm bekannt wird über Notstände in Heimen und bei ambulanten Diensten. Und ihm wird viel bekannt. Denn Fussek ist mittlerweile eine Institution. Angehörige von Pflegebedürftigen wenden sich an ihn, aber in erster Linie Mitarbeiter von Einrichtungen selbst, die – oft anonym, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten – berichten, was sie erlebt haben.

Vor drei Jahren hat Fussek einmal tief hineingegriffen in seine Aktensammlung und zusammen mit dem Journalisten Sven Loerzer daraus ein Buch gemacht, das zum Standardwerk der Pflegekritik wurde: „Alt und abgeschoben“. Die Akten sind seither weiter angeschwollen, schneller noch als zuvor – weshalb Fussek nun ein neues Buch vorgelegt hat. „Im Netz der Pflegemafia“ heißt es etwas reißerisch. Sein Co-Autor ist der Fernsehjournalist Gottlob Schober, auch er ein durch seine Reportagen ausgewiesener Experte in Sachen Pflege. Fast 400 Seiten sind es diesmal geworden. Es ist ein Horrortrip.

Was hier aufgezählt wird an Pflegemissständen, an Verwahrlosungen, an Lieblosigkeiten, an Erniedrigungen, an Gewaltakten, an Körper- und Menschenrechtsverletzungen ist eine harte Lektüre. Besonders beeindruckend sind jene Passagen, in denen Menschen, die in Pflegeeinrichtungen arbeiten, aus ihrer eigenen Anschauung erzählen. So etwa der erschütternde Bericht eines ehemaligen Heimleiters: Wie am Essen und am Personal gespart wird, wie Dokumente gefälscht, wie Alte mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Oder das unglaubliche Protokoll, das eine Pflegerin für eine Nachtschicht erstellt hat, in der sie ganz allein für 72 Heimbewohner zuständig war. Jede Minute ist verplant, die ganze Nacht ist ein atemloses, irrwitziges Hasten von Bett zu Bett, von einer schrecklichen Situation zur nächsten. Und diese Nacht war keineswegs eine Ausnahme, sondern ein Normalfall.

Immer wieder gibt es solche anrührenden Textstücke, häufig in Form von Interviews, die die Aufzählung der Missstände unterbrechen. Das verleiht dem Buch viel Unmittelbarkeit – und die kann es auch brauchen, laufen die Autoren doch Gefahr, den Leser gelegentlich zu überfluten mit ihrer großen, detailversessenen Kennerschaft. Dennoch ist gerade die Gründlichkeit der Recherche die höchste Tugend dieses Buchs. Fussek und Schober begeben sich auf ihrer Erkundungsfahrt durch den deutschen Pflegenotstand mitunter auf eine geradezu detektivische Spurensuche, die Respekt abnötigt und immer wieder auch spannend zu lesen ist. Die Autoren behalten dabei aber stets im Blick, welche aufopferungsvolle Arbeit in vielen Heimen von verantwortungsbewussten, engagierten Pflegerinnen und Pflegern geleistet wird. Vor ihnen, das gehört zum Anstand dieses Buchs, verneigen sie sich ganz besonders.

Dennoch: „Im Netz der Pflegemafia“ ist eine Anklageschrift. Gegen schamlose, betrügerische Heimbetreiber, gegen eine Politik, die unter dem Druck der Pflegelobby nicht einmal zu den dringlichsten Reparaturen an einem maroden System in der Lage ist. Und das Wichtigste dabei: Die Autoren bleiben nicht bei der Beschreibung erschreckender Zustände stehen, sondern zeigen auf, warum das alles so ist. Pflege ist ein Milliardengeschäft: Heime, Krankenhäuser, Ärzte, Rettungs- und Pflegedienste, Pharmaindustrie und Sanitärartikelfabrikanten – sie alle verdienen daran. Und wenn einmal etwas schiefgeht, dann decken sie sich gegenseitig. Diese Allianzen benannt zu haben, diese mafiösen Zusammenhänge durchschaubar gemacht zu haben, ist das Verdienst von Fussek und Schober. Wobei ihre Prognose für die Zukunft allerdings düster ausfällt: „Solange an den Folgen schlechter Pflege viel Geld verdient werden kann, wird sich im Grundsatz nichts ändern.“

Ein erster Schritt zu einer solchen Änderung wäre es, endlich Transparenz bei der Qualität von Pflegeheimen herzustellen. Obwohl seit Jahren darüber geredet wird, sind Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen noch immer nicht öffentlich zugänglich. Der Laie kann sich kein Bild von der Güte einer Einrichtung machen. Und die hasenfüßige Mini- Reform des Pflegesystems, die das Gesundheitsministerium im vergangenen Sommer präsentiert hat, wird daran wenig ändern. Sie stellt zwar eine Offenlegung in Aussicht, gesteht den Heimen jedoch Mitwirkung dabei zu. Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, wie viel solche Berichte dann noch wert sind. Auch beim gröbsten Unfug wird sich in Zukunft nicht allzu viel bessern: Noch immer werden in fast allen Bundesländern Heime meist nach vorheriger Anmeldung kontrolliert. Eine heimliche Aufforderung zum Betrug – der auch gerne Folge geleistet wird, wie Fussek und Schober aufdecken: Schnell werden Personalbestände aufgefüllt, Dokumentationen umgeschrieben, und die Alten frisch gewaschen, wenn die Prüfer vom Medizinischen Dienst anrücken.

Die Autoren geben diesem Thema besonders viel Raum. Denn es ist das Erste, was geändert werden müsste. Und man darf zu Recht den Kopf darüber schütteln, dass es derlei noch immer gibt. Was wäre eine Lebensmittelkontrolle nach vorheriger Ankündigung wert? Natürlich nichts. Warum ist das bei der Pflege anders?

Fussek und Schober sind über das Stadium des Kopfschüttelns und der Fassungslosigkeit längst hinaus. Sie sind wütend, und sie sagen das auch. Mitunter schäumt die Welle ihres Zorns ein bisschen heftig auf. Aber genau das macht dieses Buch auch sympathisch. Es ist keine akademische Studie. Es will etwas, es schlägt Alarm, es kämpft.

Ob das Buch den Weg in die Politik findet? Etwa gar ins Gesundheitsministerium? Das wäre erfreulich. Man müsste dann einen Skandal zur Kenntnis nehmen – an dem man beteiligt ist.



– Claus Fussek, Gottlob Schober:
Im Netz der Pflegemafia. Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden. C. Bertelsmann, München 2008. 399 Seiten, 14,95 Euro.

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