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Politische Literatur: Jemand hat die Absicht ...

Zwei Historiker, ein Engländer und ein Deutscher, erzählen die Geschichte der Berliner Mauer.

Achtung, aufatmen: Die Geschichte der 68er-Bewegung muss nicht neu geschrieben werden, genauso wenig wie die der deutschen Teilung. Die Enthüllung, dass der West-Polizist Karl-Heinz Kurras, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, in Stasi-Diensten stand, wird auf lange Sicht wohl doch nur eine Fußnote der deutsch-deutschen Geschichte bleiben – das jedenfalls legt ein gerade erschienenes Buch über die Berliner Mauer nahe.

Geschrieben hat es Frederick Taylor, ein Germanist und Geschichtswissenschaftler der britischen Royal Historical Society, der zum Zeitpunkt seiner Recherchen nichts von Kurras’ Stasi-Engagement ahnte. Trotzdem enthält sein Buch fast das gesamte Für und Wider der Debatte, die sich in den vergangenen Wochen an der Kurras-Enthüllung entzündet hat.

Auf der einen Seite bescheinigt Taylor Teilen der jungen West-Berliner Linken eine verklärende Haltung zur DDR: „Was konnte so falsch sein an einem Staat, in dem man eine gebundene Ausgabe von Karl Marx’ Achtzehntem Brumaire zum Preis einer Tasse Kaffee erwerben konnte? … Anstatt den Protest gegen die Mauer fortzusetzen, verbrachten die zugewanderten radikalen Aktivisten ihre beträchtliche Freizeit damit, gegen den Imperialismus in fernen Ländern und – in größerer Nähe – den angeblich protofaschistischen Charakter des von Adenauers Konservativen geschaffenen westdeutschen Staats zu demonstrieren.“

Gleichwohl ist Taylor weit davon entfernt, mit solchen Vorwürfen die gesamte 68er-Bewegung zu diskreditieren. Ausdrücklich erinnert er daran, dass der DDR-Flüchtling Rudi Dutschke zwar „Marxist, allerdings keiner von Ulbrichts Art“ gewesen sei.

Befunde, denen auch im Lichte der Kurras-Enthüllung kaum wirklich neue Erkenntnisse hinzugefügt wurden.

Wie überhaupt, Jubiläumsdebatten hin oder her, die deutsch-deutsche Teilung 20 Jahre nach ihrem Ende allmählich ins Stadium der Musealisierung überzugehen scheint. Neben Taylor hat in diesem Jahr auch der deutsche Historiker Edgar Wolfrum ein Buch zur Mauergeschichte vorgelegt, und bei beiden, dem Briten wie dem Deutschen, steht weniger die Jagd nach neuen Enthüllungen oder auch nur Thesen im Vordergrund als das Streben nach umfassender, abschließender Darstellung.

„Die Mauer“ lautet der identische Titel beider Bücher, die sich ihrem Gegenstand, der deutschen Teilung, über ihr prominentestes Bauwerk und Symbol annähern. Wolfrum räumt dabei der ostdeutschen Perspektive etwas mehr Gewicht ein als sein britischer Kollege, während Taylors (dreimal so dickes) Buch erheblich mehr über die Entscheidungsprozesse innerhalb der Besatzungsadministrationen, vor allem der amerikanischen, zu erzählen weiß. Beide Werke sind eher Lese- als Thesenbücher, die Deutschlands jüngere Geschichte als fesselndes menschliches Drama erzählen. Letzteres gelingt insbesondere Taylor, der sein Material in fünf Kapiteln arrangiert, die schon in ihren Titeln eine aufs Äußerste komprimierte Beziehungsgeschichte zwischen West- und Ost-Berlin erzählen: Sand. Blut. Draht. Beton. Geld.

Interpretatorische Spielräume nutzen Wolfrum und Taylor nur dort, wo die Aktenlage uneindeutig ist – und besonders in einem Punkt kommen sie dabei zu erstaunlich ähnlichen Ergebnissen. Beide halten Walter Ulbricht – und nicht seinen Patron Nikita Chruschtschow – für die treibende Kraft des Mauerbaus, und beide sind sich einig, dass der große kleine Mann der DDR in der entscheidenden Phase seine zögernden sowjetischen Befehlsgeber regelrecht manipulierte, um die Betonlösung durchzusetzen. Taylor: „Was Anfang 1961 geschah, war ganz einfach: Der Schwanz wedelte mit dem Hund.“

Freilich wusste man zu diesem Zeitpunkt auch in Moskau, dass die DDR wirtschaftlich auszubluten drohte, würde sich die ostdeutsche Bevölkerung weiter massenhaft durch das Schlupfloch West-Berlin absetzen. Dennoch, so Wolfrum und Taylor übereinstimmend, habe man sich in Moskau lange nicht mit Ulbrichts radikaler Vorstellung einer Berliner Teilung anfreunden können. Dann kam die berühmte Pressekonferenz vom 15. Juni, auf der Ulbricht verkündete, „niemand“ habe die Absicht, „eine Mauer zu errichten“. Danach hatte ihn allerdings auch niemand gefragt – es war Ulbricht selbst, der den Gedanken einer Mauer öffentlich ins Spiel brachte, wenn auch verneinend. In der Folge intensivierte sich der Flüchtlingsstrom – möglicherweise, weil Ulbricht subtil zu verstehen gegeben hatte, dass eine Flucht bald nicht mehr möglich sein würde. „Ermunterte Ulbricht also die Menschen bewusst, die DDR zu verlassen?“, fragt Taylor. „Wollte er auf diese Weise sicherstellen, dass den Sowjets keine andere Wahl blieb, als die Maßnahmen zu billigen – egal, welche –, deren es bedurfte, um diesen Aderlass ihres bereits geschwächten deutschen Satelliten zu stoppen?“ Was Taylor als Frage formuliert, über die mangels Belegen nur zu mutmaßen sei, ist für Wolfrum Gewissheit: „Ulbricht goss bewusst Öl ins Feuer, damit die Flüchtlingswelle noch weiter anhob, und übte somit Druck auf die Sowjetunion aus, endlich einer Grenzschließung zuzustimmen.“

Ein kürzlicher Fund im Moskauer Staatsarchiv für Zeitgeschichte scheint diese These nun zu bekräftigen. Der deutsche Historiker Matthias Uhl entdeckte dort das Protokoll eines Telefonats vom 1. August 1961, in dem Ulbricht mit Chruschtschow über die Berlin-Frage diskutiert – und den Sowjetführer mit meisterlicher Manipulationsgabe in die gewünschte Richtung lenkt. Zwar dürfte Ulbricht zu diesem Zeitpunkt bereits die generelle Zustimmung zum Mauerbau erhalten haben, doch selbst in Detailfragen gelang es ihm nun, Chruschtschow in seinem Sinne entscheiden zu lassen. So gibt Ulbricht an einer Stelle des Gesprächs scheinheilig vor, er halte „vor Durchführung dieser Maßnahme“ Erläuterungen an die Bevölkerung für notwendig. „Dazu habe ich eine andere Meinung“, entgegnet Chruschtschow. „Vor Einführung des neuen Grenzregimes sollten Sie überhaupt nichts erläutern.“ Genau das war natürlich auch Ulbrichts Wille, denn nur so konnte er die Mauer in der Nacht zum 13. August wie von Geisterhand erscheinen lassen – und sich am nächsten Tag am Schock des Westens weiden.

– Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. Siedler,

München 2009. 580 Seiten, 29,95 Euro.

– Edgar Wolfrum: Die Mauer. Geschichte

einer Teilung. C. H. Beck, München 2009. 192 Seiten, 16,90 Euro.

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