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Politische Literatur: Wie am Ende Freiheit siegt

Ein Leben in der DDR: Joachim Gauck über Kindheit, Jugend und seinen Weg in die deutsche Einheit.

Der evangelische Pfarrer Joachim Gauck war vom Oktober 1990 an zehn Jahre lang erster Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit, im Behördenkürzeljargon BStU genannt. Gauck, 1940 in Rostock geboren, hatte dort Theologie studiert und arbeitete als Pfarrer im Kreis Güstrow und in Rostock-Evershagen. Zusätzlich versah er das Amt des Stadtjugendpfarrers und leitete die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. In der Wendezeit gehörte er zu den Mitbegründern des Neuen Forums. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt, das er selbst als „Erinnerungen“ bezeichnet. Diese Einordnung bezieht sich nicht nur auf sein Erleben der Leitung der Stasiunterlagenbehörde, die im Volksmund einfach die „Gauck-Behörde“ genannt wurde, sondern er schreibt auch ausführlich über seine Kindheit und Jugend in der DDR.

Es ist vor allem dieser Blick zurück auf die frühen Jahre, durch den sich Gauck für den Leser in einer Weise öffnet, die man von der öffentlichen Person Gauck nicht gewohnt ist. Da spürt man die tiefe Wärme und Zuneigung zu den Eltern und Großeltern, da trifft man auf überaus wache Erinnerungen und eine sehr frühe, aus dem Leid der Familie gewachsene Fähigkeit zum politischen Beobachten und Schlüsse ziehen, zum Durchschauen des sozialistischen Alltags. Nichts findet sich in diesem Buch von einem Wesenszug des späteren Behördenleiter, der Gesprächspartnern schon einmal von keinerlei Selbstzweifel angekränkelt entgegentrat. Viel mag davon auch Selbstschutz gewesen sein, darf man nun vermuten, da einem ein anderer Gauck entgegentritt.

Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Diskussionen über Stasi-belastete, führende Repräsentanten der Partei Die Linke sind die frühen Eindrücke Gaucks geradezu beklemmend und vor allem für Menschen lesenswert, die keine Vorstellung vom Alltag in einem Unrechtssystem haben, das sich in seiner frühen Phase weit brutaler benahm als später, ohne dass es deswegen in seinen letzten Jahren zu einem Rechtsstaat geworden wäre. Der zu Freunden leise gesagte, warnende Satz „Halt die Klappe, sonst holen sie dich ab“ steht geradezu symbolisch für Gewaltsysteme. Er beherrschte den Umgangsstil im „Dritten Reich“, und er gehört auch zu den Prägungen des jungen Gauck in der Deutschen Demokratischen Republik der fünfziger Jahre.

Am 27. Juni 1951 wird Joachim Gaucks Vater „abgeholt“ und die Familie erfährt weder, weshalb, noch von wem er verhaftet, noch wohin er gebracht wird. Die Großmutter schreibt Eingaben an Staatspräsident Wilhelm Pieck. Sie schreibt an die Staatssicherheit, sie schreibt an das Rote Kreuz. Ohne Ergebnis. Sie fährt mit ihren 71 Jahren auf der Suche nach dem Sohn von Gefängnis zu Gefängnis und erfährt – nichts. Die Angst um den Vater solidarisiert die Familie und macht sie immun gegen den Kommunismus. Die Mutter schärft den Kindern ein: „Wenn euch jemand fragt, wann ihr in die Pioniere eintretet, dann antwortet ihr: Ihr könnt wieder nachfragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist und wann er wiederkommt.“ Der Vater, so stellt sich später heraus, war unter abstrusen Vorwürfen zu zweimal 25 Jahren verurteilt und nach Sibirien verschleppt worden.

Davon weiß die Familie nichts. Erst mehr als zwei Jahre nach der Verhaftung erfährt sie, dass er noch lebt, im September 1953 ist das. Noch einmal zwei Jahre später kommt er frei, eine Folge des Adenauer-Besuchs in Moskau, durch den insgesamt 30 000 Kriegsgefangene und Zivilinternierte aus sowjetischen Lagern entlassen werden.

Es gibt nicht wenige ältere Deutsche, die das bis auf den heutigen Tag in Dankbarkeit für die größte Leistung des ersten Kanzlers der Bundesrepublik halten.

In sehr nüchternen und deshalb umso eindringlicheren Worten schildert Gauck seine persönliche Entwicklung, die natürlich in all den Jahrzehnten durch die Erfahrungen im Elternhaus geprägt worden ist. Packend wird dieser deskriptive Stil, wenn Gauck die entscheidenden Wochen vor der Wende nachzeichnet, seine Rolle dabei als Pfarrer in Rostock und die ersten Versuche, Politik zu organisieren. Im Rückblick war die Geschwindigkeit wirklich atemberaubend, in der sich die DDR veränderte, machte ihn selbst wohl auch das Tempo manchmal sprachlos, in dem er zum ersten Leiter der Stasiunterlagenbehörde wurde.

Wie es dazu kam, wie ihn die folgenden Jahre prägten, wird dem Leser autobiografisch erzählt, ohne dass der Protagonist dabei sich selbst oder seine Rolle herausstreicht. Besonders faszinierend zu lesen ist Gaucks Version des Konfliktes mit dem früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und dessen Beziehung, oder Nicht-Beziehung, zur Staatssicherheit. Während Stolpe immer bestritten hat, jemals IM, also inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, gewesen zu sein, hält Gauck bis heute an seinen Zweifeln an dieser Aussage fest. Er räumt ein, dass die eigentlich Akte IM ‚Sekretär‘ nicht existiert, und zitiert dennoch aus einem Gutachten seiner Behörde aus dem Jahre 1992, dass Stolpe „nach den Maßstäben des Ministeriums für Staatssicherheit über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren ein wichtiger IM im Bereich der Evangelischen Kirche der DDR war“.

Joachim Gauck, er wird im kommenden Januar 70 Jahre, ist nicht nur Zeitzeuge, er hat diese Zeit des Umbruchs und danach mitgestaltet. Das macht seine Biografie jeder wissenschaftlichen Darstellung dieser Jahre überlegen, weil erfahrene Geschichte, „oral history“, den Geist des Unmittelbaren atmet. Wer „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ gelesen hat, versteht die jüngere deutsche Vergangenheit besser.

Joachim Gauck: Winter im Sommer. Frühling im Herbst. Erinnerungen. Siedler Verlag, München 2009. 352 Seiten. 22,95 Euro.

Gerd Appenzeller

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