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Politisches Buch: Kämpfer oder Helfer

Eric Gujer fordert in seinem Buch über die Weltmacht Deutschland: "Schluss mit der Heuchelei"

Begeben wir uns mal für einen kurzen Moment in die Steinzeit der Weltgeschichte: März 1990. Chequers, der Landsitz der britischen Premierministerin. Vier Monate nach dem Fall der Berliner Mauer hat Margaret Thatcher ein paar Historiker zu einer vertraulichen Diskussion eingeladen. Das Thema: Deutschland. Genauer gesagt, der gefährliche Nationalcharakter der Deutschen. Und so wird munter drauflos geschimpft und gewarnt. „Angst, Aggressivität, Angeberei, Eigendünkel, Minderwertigkeitskomplex und Sentimentalität“ bescheinigen die Experten den Bürgern der Bundesrepublik. Einer der Anwesenden erklärt angeblich: Man habe die Deutschen entweder zu Füßen oder an der Kehle.

Kurz nach dem Zusammenbruch der DDR und vor der deutschen Einheit blickten einige ziemlich skeptisch auf den neu entstandenen 80-Millionen-Einwohner- Koloss. Die bange Frage lautete: Wird diese neue, starke Bundesrepublik außen- und wirtschaftspolitisch nicht alle anderen Staaten an die Wand drücken? Entsteht da nicht eine gefährliche Hegemonialmacht? Hat Deutschland nicht schon mehrfach die anderen das Fürchten gelehrt? Doch der Angstschweiß ist längst getrocknet, die Vorbehalte verschwunden. Denn die neue Bundesrepublik blieb ihrer alten außenpolitischen Grundorientierung treu. Und die lautet: Machtpolitik ist tabu. Einfluss nehmen? Bloß nicht! Neues Selbstbewusstsein hin oder her, sollen doch die USA oder wer auch immer die Krisen und Konflikte dieser Welt lösen. Wir halten uns vornehm zurück und im Hintergrund.

Genau diese Haltung ärgert Eric Gujer. Und er empfiehlt: Schluss mit der Heuchelei. Deutsche Außenpolitik, ist sich der Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ sicher, setzt sich heute vorwiegend aus Zwecklügen, Selbsttäuschungen, mangelndem Selbstbewusstsein und Perspektivlosigkeit zusammen. Aber diese Haltung sei grundfalsch und grundlos. „Das wiedervereinigte Deutschland ist zu einer Großmacht herangewachsen. Aber sie klammert sich an das Biedermeierideal einer Mittelmacht. Dem Land fehlen Wille und Vorstellung, global zu agieren.“ Das würde selbstverständlich kein Verantwortlicher im Kanzleramt und im Außenministerium zugeben und dieser Einschätzung sogleich vehement widersprechen. Aber Gujer trägt in seinem flott geschriebenen und inhaltsreichen Büchlein einiges zusammen, das selbst den zunächst skeptischen Leser zum Nach- und nicht selten auch zum Umdenken zwingt. Nach gut hundert Seiten ist man fast überzeugt davon, dass Deutschland gelassen wie zielstrebig, seine weltweiten Interessen verfolgen sollte.

Ob Europa, Irak, Afghanistan oder Asien, ob UN oder Nato – überall stößt Gujer auf die ängstliche Großmacht Deutschland. Und die begeht reihenweise taktische Fehler. Zum Beispiel, als es um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat ging. Eine solche Forderung hält der Autor durchaus für angemessen. Denn das entspräche dem Stellenwert der Bundesrepublik in der internationalen Politik. Doch Berlin habe bei seinem Vorstoß die Machtverhältnisse einfach falsch eingeschätzt. Die Unwägbarkeiten einer grundlegenden Reform des Gremiums seien für die USA zu groß gewesen.

Besonders augenfällig wird Deutschlands außenpolitisches Zaudern, wenn die Innenpolitik ins Spiel kommt. Das gilt vor allem für Einsätze der Bundeswehr im Ausland. Auch hier drückt sich die Politik um ein klares Bekenntnis: Ja, die Welt ist schlecht. Und damit sie nicht noch schlechter wird, muss eben im Notfall auch Waffengewalt angewendet werden. Zu Recht moniert Gujer deutsche Selbsttäuschung: „Die Bundesrepublik hat seit 1992 in immer schnellerer Folge Truppen ins Ausland entsandt: nach Kambodscha, Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, ans Horn von Afrika, nach Kongo und Libanon. Dennoch sieht man in den Bundeswehrangehörigen keine Kämpfer, sondern Entwicklungshelfer.“ Genau deshalb sei eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage „Kämpfer oder Helfer?“ dringend erforderlich. Um die werde allerdings immer noch ein großer Bogen gemacht. Wer könnte dieser Einschätzung ernsthaft widersprechen.

Mag man auch in Details Gujer widersprechen wollen (zum Beispiel seiner allzu wohlwollenden Einschätzung der russischen Politik), grundsätzlich legt der Schweizer Journalist – nicht hämisch, sondern fast schon liebevoll – den Finger in deutsche Wunden. Starke Politik bedeutet eben: gestalten. Genau das erwartet die Weltgemeinschaft von der Bundesrepublik. Sie muss nur an sich glauben. Und dementsprechend handeln.

Eric Gujer: Schluss mit der Heuchelei. Deutschland ist eine Großmacht. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007. 104 Seiten, 10 Euro.

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