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© dpa

Prager Frühling: Der Traum von der Revolte

Dubcek statt Dutschke: Stefan Wolle hat ein Buch über den Prager Frühling und die DDR 1968 geschrieben.

Noch immer ist Deutschland ein Land mit doppelter Vergangenheit: Wer im Westen von den 68ern redet, denkt an die Apo und Rudi Dutschke, an Sit-ins und Demonstrationen, an Springer und Vietnam, den Schah und Benno Ohnesorg. Im Osten, oder genauer: unter den DDR-Geborenen, ruft dieses Jahr ganz andere Erinnerungsgefühle hervor. Frühlingsahnungen aus Prag, die Demokratie und Freiheit verhießen, weit weg von studentischer Marcuse- und Mao-Rhetorik. An der Moldau war Alexander Dubcek der Star. Seine Vision war ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Es ist Stefan Wolle und dem Links-Verlag zu danken, dass im aktuellen Disput um die 68er Deutungshoheit diese andere deutsche Erfahrung nicht gänzlich untergeht. Ist sie doch schon deshalb spannend genug, weil beide Zeitströmungen in der DDR wie nirgendwo sonst unmittelbar aufeinandertrafen. Und weil der Prager Frühling trotz seiner kurzen Dauer am Ende nachhaltiger wirkte in der Geschichte Mitteleuropas als der diffuse Studentenprotest.

Studentenprotest und Prager Frühling waren für die SED von durchaus unterschiedlichem Risiko: Im gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus probte die FDJ zunächst sogar das Aktionsbündnis mit dem SDS. Als dieser jedoch gleichermaßen den Sowjetimperialismus kritisierte, machte die SED erneut alle ideologischen Schotten dicht. Beat und Twist, echte Jeans, lange Haare und kurze Röcke, zeitweilig geduldet, landeten wieder auf dem realsozialistischen Index. Marcuse verschwand im Giftschrank der Bibliotheken.

Sehr viel komplizierter gestaltete sich für die SED-Spitze der Umgang mit den Reformkommunisten in Prag. Die KPC war schließlich eine für Ost-Berlin besonders wichtige Bruderpartei und Alexander Dubcek ihr mit dem Segen Breschnews gewählter Führer. Dennoch spürte Walter Ulbricht schon sehr früh im Jahr 68, dass an der Moldau eine „schleichende Konterrevolution“ drohte. Von daher verwundert es nicht – und Wolle belegt dies mit eindrucksvollen Protokollzitaten –, dass Ulbricht auf den Warschauer-Pakt-Konferenzen zu den Scharfmachern gehörte, die den zögernden Kreml-Chef Breschnew drängten, dem Spuk an der Moldau ein rasches, und wenn nötig, gewaltsames Ende zu setzen. Der SED-Chef kämpfte gleich an mehreren Fronten: gegen die bundesdeutschen Medien, welche die Ideen des Prager Frühlings tagtäglich frei Haus in die DDR lieferten, gegen die Ostpolitik und den „Sozialdemokratismus“ des Bonner Außenministers Willy Brandt, schließlich gegen eine mögliche Verständigung zwischen Moskau und Bonn über seinen eigenen Kopf hinweg. Da mussten im Ost-Berliner Politbüro alle Alarmglocken läuten. Erst als Dubcek stürzte, war Ulbricht gerettet, ja, er stand, wie Wolle mit anderen meint, Ende 1968 im Zenit seiner Macht. Und doch, fügt der Historiker fragend hinzu, wurde er nicht auch selber Opfer seines eigenen bösen Spiels? Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gab es schließlich auch für den selbstbewussten SED-Chef keinen politischen Spielraum mehr, seinem Traum vom eigenen Sozialismusmodell weiter zu träumen. Höchst unsanft wurde er stattdessen von seinem Zögling Erich Honecker aufs Altenteil verbannt.

Viele Menschen in der DDR hatten in diesem Jahr mit Hoffnung und Sympathie nach Prag geschaut oder waren dorthin gereist, um den politischen Frühling am eigenen Leibe zu spüren. Scham und Empörung, so weiß Wolle aus den Stasiarchiven zu zitieren, breiteten sich in der Bevölkerung aus, als das Militär am 21. August in die CSSR einmarschierte. Protest machte sich in Flugblättern und Dubcek-Losungen Luft. Rund 1000 Personen wurden von den „Organen“ dingfest gemacht, 3358 Parteigenossen, so fand Wolle heraus, mussten durch Orientierungsgespräche oder Parteistrafen zurück auf den rechten Weg gebracht werden. Seismische Erschütterungen, so resümiert der Autor zu Recht, waren mithin durchaus zu spüren, namentlich unter den Arbeitern und in den grenznahen südlichen DDR-Bezirken. Ein politisches Erdbeben aber gab es nicht. Von einer Revolte hat in der DDR damals niemand geträumt. Zu Bruch ging bei manchen die Hoffnung auf einen reformierbaren Sozialismus. Wer den Glauben daran bereits früher verlor, verharrte weiter in Anpassung und Resignation.

Wolles Diagnose ist ohne Zweifel plausibel. Sein Buch ist gut formuliert und flüssig geschrieben. Gleichwohl bleiben Lücken. Gerne hätte man Genaueres darüber erfahren, wie der Prager Frühling in den verschiedenen SED-Gliederungen diskutiert worden ist. Auch wer Antworten auf die Frage sucht, wie DDR-Schriftsteller und Künstler auf die „Revolution des Wortes“ (Wolle) in Prag reagierten, findet sie in diesem Buch nicht. Zu knapp und oberflächlich überhaupt gerät, was Wolle zum tschechoslowakischen Erneuerungsprozess zu Papier bringt. Fehleinschätzungen bleiben folglich nicht aus, wenn er etwa zu den Moskauer Verhandlungen nach der Invasion formuliert, die Dubcek-Führung „akzeptierte die Okkupation ihres Landes, erhielt dafür aber freie Hand für die Fortsetzung des Reformkurses“. Beides geht offenkundig an den historischen Fakten vorbei. Er übersieht, was wirklich nachhaltig wirkte am Prager Frühling: der Herbst ’68, als das Volk den Panzern geschlossen gewaltlos entgegentrat.

Das war die Revolte einer Zivilgesellschaft, wie sie in der DDR erst 21 Jahre danach Wirklichkeit wurde. Da aber war der Traum vom Sozialismus bereits ausgeträumt. Die DDR trat der BRD bei, wo die 68er – Ironie der Geschichte – inzwischen erfolgreich durch die Institutionen marschiert waren.

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