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© Johannes Jander

Prokrastination: "Wer schiebt denn bitteschön Rumliegen auf?"

Dinge aufschieben, um wichtige Aufgaben herumschleichen und erst kurz vor der Deadline mit dem Arbeiten anfangen - furchtbar, oder? Im Gegenteil, sagen Kathrin Passig und Sascha Lobo. Die beiden Berliner haben ein Buch über das Phänomen Prokrastination geschrieben. Ein Gespräch über produktives Nichtstun und den Teufel Selbstdisziplin.

Wir haben einen Termin mit Kathrin Passig und Sascha Lobo. Wir sind zu früh. Zu einem Gespräch, in dem es um chronisches Aufschieben, später machen, nicht auf die Reihe kriegen geht. Schließlich heißt das Buch, um das es hier gehen soll "Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin". Zu früh kommen in diesem Fall ist eigentlich - unmöglich. Aber es regnet. Immer noch fünf Minuten vor der Zeit - wir klingeln. Und Kathrin Passig öffnet.

Haus der frohen Zukunft, so heißt das Büro. Eine Remise in einem Kreuzberger Hinterhof, idyllisch, ja, eine Katze springt herum. Es ist ein Gemeinschaftsbüro und vollgestopft mit Büchern, Ordnern, Monitoren, Computern. Auf dem Boden ein Bücherstapel, obendrauf liegt "Endlich aufgeräumt: Der Weg aus der zwanghaften Unordnung". Alles Recherche-Bücher. "Die kommen direkt aus der Hölle", sagt Kathrin Passig.

Sascha Lobo ist noch nicht da, hat aber eine gute Ausrede. Außerdem soll gleich noch eine Getränkelieferung kommen. An der Wand hängt ein Plakat: Weti - Waiting for Extraterrestrial Intelligence. Sollen die Außerirdischen doch uns entdecken. Wir sind bereit. Und warten auf Lobo.

Wir sprechen mit Kathrin Passig über die Buchvorstellung, die kürzlich im Berliner Radialsystem stattgefunden hat. Schön war's und sie ist auch gar nicht eingeschlafen beim Lesen, sagt sie. Das sei ihr schon mal passiert, sie leidet an Narkolepsie, eine Störung, wegen derer sie jederzeit kurz einzuschlafen droht. "Dann liest man wie besoffen, ganz komisch". Wir plaudern noch ein bisschen über alternative Titel für ihr Buch. "Triumph des Unwillens" war dem Verlag zu riefenstahlesk. "Titel kommt später" wäre Passigs Favorit gewesen.

Und dann geht's los. Auftritt Lobo. Ganz kurz muss er noch was essen. Aber wir können ja schon mal anfangen.

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Sascha Lobo. -

© Cedric Ebener

Herr Lobo, Frau Passig, Aufschieber aller Art werden in Ihrem Buch mit einem bestimmten Begriff bezeichnet, nämlich Lobo. Was verbirgt sich dahinter?

Lobo: Das ist gleichermaßen schade und hinterhältig von Kathrin, dass ich das erklären muss. Der Begriff Lobo ist nur zufällig mein Nachname. Tatsächlich ist es eine Abkürzung für "Lifestyle of Bad Organisation". Dieser Begriff wurde von unserem Kollegen Moritz Metz geschaffen und dann von Kathrin Passig in einem Moment akzeptiert, als sie sauer auf mich war, weil ich länger nichts zum Buch beigetragen hatte. Dabei waren noch mindestens sechs oder sieben Wochen Zeit bis zur Abgabe.

Sie haben also auch die Arbeit am Buch erfolgreich aufgeschoben.

Passig: Wir hatten dem Verlag gesagt, dass wir für das Buch ein halbes Jahr brauchen. Normalerweise würde man sich für so ein Projekt ein Jahr Zeit geben. Aber von diesem einen Jahr verplempert man dann natürlich die ersten sechs Monate mit dem Versuch, sich aufzuraffen. Wir haben gedacht, dann können wir ja direkt in die Torschlusspanik einsteigen. Das führte aber dazu, dass wir die ersten drei Monate versucht haben, uns aufzuraffen. Wenn wir uns drei Monate gegeben hätten, hätten wir wahrscheinlich auch die ersten sechs Wochen nichts getan.

Für das Phänomen, Dinge aufzuschieben, gibt es ja auch einen schönen Fachbegriff: Prokrastination. Und Ratgeber, wie man sein Leben besser organisiert, gibt es doch auch schon eine ganze Menge.

Passig: Allerdings, es gibt mindestens zwei Regalmeter Selbsthilfeliteratur zu dem Thema. Meistens wird dort dem Aufschieber geraten, dass er sich nur mal gründlich zusammen reißen soll. Allein um diese zwei Regalmeter auszugleichen, haben wir versucht, in unserem Buch so dick aufzutragen, dass es das auf 280 Seiten aufwiegen kann.

Was gibt es an diesen Ratgebern denn auszusetzen?

Passig: Es gibt von dem Prokrastinationsforscher Joseph Ferrari den Satz, einem Aufschieber zu sagen, dass er sich einen Terminplaner kaufen und sich zusammenreißen soll, sei so ähnlich, wie einem Depressiven zu sagen, dass er doch bitte einfach mal bessere Laune haben soll. Bei dem, was wir an Ratgebern gelesen haben, überwog doch sehr stark diese "Jetzt reiß dich mal zusammen"-Schiene.

Und was ist Ihre Botschaft?

Passig: Trost. Das realistische Minimalziel ist, dass die Leute das Buch lesen und an ihrem Leben gar nichts ändern, sich damit aber besser fühlen als vorher.

Sie nennen sich selbst ja Profi-Prokrastinierer, das heißt, Sie tun tatsächlich einige Sachen nicht, Sie räumen nicht den Keller auf und öffnen wichtig aussehende Briefe grundsätzlich erst ein paar Jahre später. Lustigerweise erledigen sich viele dieser Probleme dann von selbst. Außerdem kriegen Sie beim Aufschieben trotzdem unglaublich viele Dinge hin. Ihr gemeinsames Blog "Riesenmaschine" wurde mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet, Kathrin Passig gewann den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

Lobo: Es geht um das Stichwort "produktive Prokrastination". Man muss ganz dringend etwas tun und tut etwas völlig anderes. Aber mit der Zeit und ein bisschen Übung, mit Selbstkenntnis und den richtigen Leuten schafft man dieses völlig andere, was man stattdessen tut, einigermaßen genau zu steuern.

Und was machen die ganzen Leute da draußen falsch, die weder ihre Steuererklärung schaffen noch stattdessen endlich ihren Roman schreiben?

Passig: Die machen doch bestimmt irgendwas Drittes, während sie den Roman und die Steuererklärung vor sich hinschieben. Wenn sie ungeübte Prokrastinierer sind, dann ist dieses Dritte womöglich einfach das Bügeln und Falten ihrer Socken. Das ist natürlich ungeschickt. Alles, was jetzt nicht direkt Sockenbügeln ist, wird sich eines Tages als vorteilhaft herausstellen. Wir haben die Riesenmaschine schließlich auch programmiert und vollgeschrieben, während wir dringend irgendwelche ganz anderen Dinge hätten tun sollen.

Warum schiebt man denn auch angenehme Aufgaben vor sich her?

Passig: An dieses Gerücht glaube ich nicht. In einem der Bücher, die wir gelesen haben, war die Rede von einem Mann, der es jahrzehntelang aufgeschoben hat, mit seiner Frau in den Urlaub zu fahren. Das wurde von den Autoren als Beleg dafür genommen, dass eben auch angenehme Dinge aufgeschoben werden. Mein persönlicher Verdacht wäre, dass dieser Mann überhaupt keine Lust hatte, mit seiner Frau in Urlaub zu fahren und sich dieser Tatsache nur nicht stellen wollte. Irgendetwas Unangenehmes ist an aufgeschobenen Aufgaben immer. Wer schiebt denn bitteschön Fernsehen oder Rumliegen auf?

Man soll die Aufschieberei positiv sehen, schreiben Sie. Aber ist das schlechte Gewissen nicht auch ein Antrieb, um ungeliebte Dinge überhaupt zu erledigen?

Passig: Schön, wenn das für Sie so funktioniert. Bei mir ist es nicht so, bei mir führt das schlechte Gewissen dazu, dass ich es dann erst recht nicht mache und auch in den nächsten drei Jahren nicht weiter komme.

Lobo: Das ist auch eines der verbreiteten Missverständnisse, dass das schlechte Gewissen noch einen Antrieb gibt. Im Gegenteil: Es lähmt einen, auch in anderen Bereichen. Das entspringt etwa der gleichen Quelle, wie wenn Menschen glauben, dass der Teufel Selbstdisziplin irgendwas mit Motivation zu tun hätte.

Warum ist Selbstdisziplin denn schlecht?

Lobo: Sie hilft einem dabei, die eigenen Empfindungen zu überwinden. Man hat einen inneren Widerstand gegen eine Arbeit, aber man zwingt sich, sie zu tun. Das ist so, als würde man mit der Hand auf die heiße Herdplatte fassen, weil man ja überzeugt ist, es sei richtig. Dafür ist Selbstdisziplin total super, aber wenn man sich einmal richtig die Hand verbrannt hat, sollte man damit aufhören.

Ist das ein eigentlich ein deutsches Phänomen, diese Selbstdisziplin und Sprüche wie "Reißt euch mal zusammen"?

Passig: Ein Großteil der Produktivitätssteigerungs-Literatur stammt aus den USA. Das spricht eher dagegen, dass es ein rein deutsches Phänomen ist. Soweit wir wissen, schieben die Leute überall gleichviel auf.

Lobo: Was sich historisch zumindest in Teilen als Begründung anführen lässt, ist die protestantische Arbeitsmoral, die über die westliche Welt gestülpt wurde, ausgehend aus der Schweiz übrigens, maßgeblich forciert von Herrn Zwingli und von Herrn Calvin. In der Südsee gibt es mehrere Inseln, wo die Menschen davon überzeugt sind, dass es schädlich ist, an zwei aufeinander folgenden Tagen zu arbeiten. Diese Einstellung kann ich sehr gut nachvollziehen.

Eine ungewöhnliche Lösung, die Sie in dem Buch anbieten, ist die Einnahme von Ritalin. "Vitamin R - Vom Koks des gesetzestreuen Bürgers", heißt das entsprechende Kapitel.

Lobo: Wir haben beide tatsächlich schon Ritalin bekommen. Kathrin wegen ihrer Narkolepsie, ich wegen meiner ADS-Erkrankung. Das wirkt bei manchen Menschen erstaunlich konzentrationsfördernd und man wird zu einer Art Erledigungsmaschine. Bei mir wirkt das allerdings überhaupt nicht.

Passig: Sascha ist schon als Kind in den Topf mit Ritalin gefallen.

Lobo: Etwa 30 Prozent sind vollkommen immun gegen die Wirkung.

Passig: Mich macht das zu einer Erledigungsmaschine. Ich nehme diese Medizin und habe eigentlich vor, erst mal das Internet durchzulesen und dann vielleicht meine Mails anzuschauen und dann wieder das Internet durchzulesen. Und eine halbe Stunde später merke ich, ich habe versehentlich angefangen zu arbeiten, und noch eine Viertelstunde später merke ich, die Arbeit ist getan und ich brauche neue Arbeit. Aber Ritalin ist eigentlich eine dumme Droge.

Warum?

Passig: Ritalin will nur irgendwas arbeiten. Das heißt noch lange nicht, dass man dann etwas Vernünftiges oder das Richtige tut. Wenn man in einem Job festsitzt, der einem zuwider ist, und aus dem man, wenn man vernünftig wäre, aussteigen würde, dann hilft einem Ritalin dabei, es auch noch bis zur Rente in diesem Job auszuhalten.

Würden Sie sagen, Sie sind jetzt geheilt?

Passig: Da gibt es diesen alten Witz von einem Mann, der zum Psychotherapeuten geht, weil er immer in die Hosen macht. Er begegnet dann Wochen später einem Freund auf der Straße und der fragt: Und, bist du jetzt geheilt, machst du jetzt nicht mehr in die Hosen? Doch, antwortet der Mann, aber jetzt macht es mir Spaß. In dem Sinne sind wir geheilt. Wir prokrastinieren weiter, aber jetzt macht es uns Spaß.

Wir sind am Ende des Gesprächs, vielen Dank. Jetzt ist die Getränkelieferung doch nicht gekommen.

Passig: Das ist ja auch ganz passend, die riefen vor eineinhalb Stunden an und sagten, dass sie in einer halben Stunde kommen wollten.

Eine Frage noch: Was hätten Sie an Stelle des Buches eigentlich machen wollen?

Passig: Ein anderes Buch schreiben. Aber das kommt jetzt als nächstes.

Lobo: Ich hätte eine ganze Reihe von Dingen tun sollen. Unter anderem eine lange überfällige Diplomarbeit.

Passig: (lacht) Lange, so im Sinne von zehn Jahre überfällig.

Lobo: Ich bin im tausendsten Semester.

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