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Claudio Magris

© ddp

Roman: Ich bin viele

Mit seinem Roman "Blindlings" zeigt sich Claudio Magris wenig zukunftsfroh und voller Fabulierlust.

Die Kellnerin im Café San Marco von Triest nennt Claudio Magris den „professore“. Gerade hier aber wird der renommierte Universitätslehrer gern zum Journalisten und schreibt Artikel für den „Corriere della Sera“. Auch Politiker ist Magris schon gewesen: Zwischen 1994 und 1996 saß er als Parteiloser für die Region Triest im italienischen Parlament. In letzter Zeit aber versteht er sich vor allem als Schriftsteller. Vielleicht eine Frage des Alters, hat er einmal vermutet. Irgendwann finde man eben mehr Gefallen am Erzählen als am Urteilen.

Wer Magris sagt, muss auch Triest sagen. Zu eng ist seine intellektuelle Biografie mit der Stadt in Italiens Nordosten verbunden. Triest war immer Grenzland – mit wechselnder Nationalzugehörigkeit. Kaiser Franz Joseph I., Mussolini und Tito, germanische, romanische und slawische Kultur trafen hier aufeinander. Magris hat die flirrende Unbestimmbarkeit der Stadt und die Auflösung des Ichs in Triester Cafés beschrieben. Er hat den habsburgischen Mythos durchleuchtet und uns Mitteleuropa erklärt. Sein schillernder Reisebericht „Donau“ (1986), eine kulturgeschichtliche „Biographie“ des Flusses, machte den Germanisten weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt.

Bei alledem war Magris immer ein politisch wacher Beobachter. Als Berlusconi-Gegner gehörte er wie Umberto Eco und Enzo Biagi zu den Begründern des regierungskritischen Bündnisses „Libertà e Giustizia“. Dennoch, von der italienischen Linken wurde er skeptisch beäugt. Sein Sinn fürs Faktische war mit Utopismus nie vereinbar. Und doch ist er ein großer „Theoretiker“ des ernüchterten Hoffnungsdenkens, das durch Entzauberung nicht vernichtet, sondern gestärkt wird. Um den Verbleib der utopischen Energien nach den desaströsen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geht es auch in „Blindlings“, seinem neuen Roman. Und natürlich beginnt alles in Triest. Dort sitzt Salvatore Cippico in der Psychiatrie – offenbar ein Fall von Bewussteinsspaltung. Denn einerseits ist Cippico der Sohn eines nach Tasmanien ausgewanderten Italieners, den Australien wegen kommunistischer Umtriebe verweist, der später im spanischen Bürgerkrieg kämpft, von den Nazis als Partisan in Dachau und von Tito als Abweichler im Gefängnis interniert wird. Andererseits hält er sich für den dänischen Dichter und Abenteurer Jorgen Jorgensen, der um die vorletzte Jahrhundertwende lebte, Wale harpunierte und Kap Hoorn umsegelte, sich für drei Wochen zum König von Island ausrief und bei der Schlacht von Waterloo dabei war.

Cippico nun spricht seine beiden Leben aufs Tonband des Anstaltsarztes. Er lässt die kommunistische Bewegung Revue passieren – mit ihren Glücksverheißungen und dem Kadavergehorsam gegenüber der Partei. Wie so oft geht es Magris um das am Rande der großen Geschichte Liegengebliebene. Dazu gehört die Ausrottung der tasmanischen Ureinwohner, die Flucht tausender Italiener vor Tito aus Istrien, der jugoslawische Gulag. Untergründig aber ist die politische Geschichte mit Abenteuergeschichten verkoppelt– Magris’ erste Lektüre war ein Roman von Emilio Salgari, dem italienischen Karl May. Auch das Meer, ein Dauerthema seiner Bücher, nimmt einen prominenten Platz ein. Zusammengehalten wird der Text vom Bild der Argo, jenes wundersamen Gefährts, das Apollonios von Rhodos im 3. Jahrhundert vor Christus mit Jason bemannte und zum Goldenen Vlies nach Kolchis entsandte. Wie die Fahrt der Argonauten ist das Leben des Cippico/Jorgensen ein ständiger Wechsel von Aufbruch und Schiffbruch.

Nein, einen zukunftsfrohen Roman kann man „Blindlings“ schwerlich nennen – wohl aber ein feinsinnig komponiertes und rhythmisiertes Gebilde, dessen Autor sich mit großer Fabulierlust in fantastischen Zusammenhängen verliert und dennoch alle Erzählfäden in der Hand behält. Die Qualitäten des Essayisten Magris sind über jeden Zweifel erhaben. Spätestens mit „Blindlings“ begegnet ihm der Romancier auf Augenhöhe.

Claudio Magris: Blindlings. A.d. Ital. v. Ragni Maria Gschwend. Hanser, München. 416 S., 24,90 €. – Der Autor stellt seinen Roman am 23.9. um 20 Uhr in der Akademie der Künste am Pariser Platz vor.

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