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Ortheil

© Promo

Roman: Morchelhut auf Fleischmassiv

Hanns-Josef Ortheil hält mit "Das Verlangen nach Liebe" ein Plädoyer für regressive Weltflucht.

Eines ist sicher: Zürichs Kellner werden Hanns-Josef Ortheil lieben. Mit seinem neuen Werk hat ihnen der deutsche Romancier ein Denkmal gesetzt. Wo immer Ortheils Figuren auf den 318 Seiten einkehren – und sie kehren oft ein –, stets treffen sie auf dienstbare Geister, die sich mit einer ans Paranormale grenzenden Empathie um das Wohl ihrer Gäste kümmern. Mit „Wir haben viel Zeit, wir haben viel Zeit, nehmen Sie sich Zeit, so viel Sie wollen!“ heißt der Kellner sie in der „Kronenhalle“ willkommen, und sein Kollege im „Kropf“ sekundiert angesichts des Glücks der Liebenden andächtig: „Es geht Ihnen gut, das freut mich.“

Die Kellner sind die Zeremonienmeister in den von sonstigen (womöglich störenden) Besuchern auffallend freien Tempeln der Sinne und Sinnesfreuden. Judith und Johannes, Hedonisten wie ihr Autor, geben sich bei ihrer lustvoll zelebrierten Wiederannäherung immer neuen gemeinsamen Gaumenfreuden hin. Deshalb hat dieser Roman das Zeug, zum Kultbuch für Slowfood-Anhänger zu avancieren. Der ausgedehnte Verzehr von Kartoffelsuppe mit Steinpilzen, von St. Galler Bratwürsten mit Bürli oder von Kalbsbitoke mit Morchelrahm (mit neckischen „kleinen Morchelhüten auf dem runden, kompakten Fleischmassiv“) dient dem Paar nicht nur als kulinarisches Vorspiel. Das gemeinsame Essen ist das Medium, in dem sich die absolute Übereinstimmung Bissen für Bissen und Schluck für Schluck manifestiert.

Nun ist Glück, das wusste schon Freud, ein episodisches Phänomen. „Wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand sehr wenig“, lehrte er. Das gilt in der Kochkunst ebenso wie in der literarischen. Liebesromane zum Beispiel müssen nicht unbedingt schlecht ausgehen, um als satisfaktionsfähig zu gelten – sollten den Leser aber zumindest einem Wechselbad der Gefühle aussetzen. Üblicherweise durch die Inszenierung äußerer und/oder innerer Widerstände, die die Figuren erst überwinden müssen, um zueinanderzufinden.

Dass es auch anders geht, ohne deshalb in die Untiefen von Kitsch und Langeweile zu geraten, davon ist Ortheil, in Hildesheim Professor für Kreatives Schreiben, überzeugt. Nach seinem Literaturbetriebs-Zeitroman „Die geheimen Stunden der Nacht“ (2005) und dem Mozart-Tagebuch „Das Glück der Musik“ (2006) folgt nun wieder ein Plädoyer für regressive Weltflucht. Sein erstes hielt Ortheil 2003 mit „Die große Liebe“, einem provozierend affirmativen Italienroman, der Kritik und Publikum spaltete. Sein neuer Roman mit dem womöglich noch dreisteren Titel „Das Verlangen nach Liebe“ und dazu passendem „frauenaffinen“ Cover wirkt in vielem wie eine Neuauflage. Wieder wird mit viel Emphase und etwas Augenzwinkern der einzig wahren, der romantischen Liebe gehuldigt: Für Ortheils Liebende ist der Dichtername „Klopstock“ kein Siegel für einen vergänglichen Augenblick höchsten Glücks, vielmehr „die kleinste Maßeinheit aller Freudennuancen“, die es endlos zu steigern gilt.

Am Anfang steht ein erhofftes Wiedersehen. In Zürich laufen sich Johannes und Judith zufällig über den Weg. Vor 18 Jahren waren sie unzertrennlich, Seelenverwandte, die auf ihren Reisen ein „nicht enden wollendes Sprechen, Erzählen und Phantasieren“ pflegten. Bis Judith den Icherzähler eines Tages betrog. In der Gegenwart ist Johannes inzwischen ein erfolgreicher Konzertpianist, der in Zürich Mozart spielen soll, Judith eine renommierte Kunsthistorikerin, die eine Ausstellung kuratiert.

Dass Judith noch immer denselben braunen, offenbar unverwüstlichen Lederrucksack von damals trägt, ermutigt Johannes mit Recht zu Optimismus. Denn gegen alle Erfahrung und Wahrscheinlichkeit zeigt sich zwischen den beiden keinerlei Fremdheit. Im Gegenteil: Sogleich stellt sich die alte Vertrautheit wieder ein, der Rausch der Übereinstimmung beim Gespräch über Kunst, Literatur und Musik. „Du spürst doch genauso wie ich, was hier mit uns passiert“, sagt Judith. „Wir haben endlich wieder zueinandergefunden, das ist ein großes, unvorstellbares Glück.“

Was oder wer auch immer im Folgenden dieses Glück gefährden könnte, entpuppt sich rasch als harmlos. Johannes’ Agentin Tanja hat sich zwar bislang auch der körperlichen Bedürfnisse ihres Klienten angenommen, ist aber so selbstlos auf dessen Wohl bedacht, dass von ihr keine Störungen zu erwarten sind. Und Judiths Assistentin Anna lässt sich nur von der erotischen Energie, die das Wiedersehen mit Judith in Johannes freisetzt, anziehen, zur ernsthaften Konkurrentin wird sie nicht. Stattdessen entpuppt sie sich als langjährige Verehrerin des Pianisten, die Johannes’ Aufnahmen auswendig kennt.

So etwas wie Spannung kommt bei so viel Glück nur auf, weil sich dem Leser zwei Fragen stellen: Warum nur haben sich Johannes und Judith überhaupt je getrennt? Und: Ist das alles nicht zu schön, um wahr zu sein; muss es nicht doch zur Katastrophe kommen, spätestens beim anstehenden Konzert? Indes, mit dramatischen Wendungen ist nicht zu rechnen, umso mehr mit einem geradezu schamlosen Happy End. Die psychische Labilität des Protagonisten, der nach der Trennung zeitweilig psychotisch wurde und noch immer „untergründig lauernde, dunkle Phantasien“ in sich fühlt, gerät nur einmal in einer wie aus einer Erzählung E. T. A. Hoffmanns stammenden russischen Kneipe außer Kontrolle, ansonsten vermag Judiths Liebe alles ins Kreative zu lenken: Johannes will am Ende den „erstarrten Klassik-Markt revolutionieren“.

Selbstbewusst kommentiert sich der Roman als „erotisch aufgeladene Textküche“. Was hier angerichtet wird, ist jedoch kaum mehr als Futter für harmoniesüchtige Leser. Einen Genuss bietet immerhin Ortheils Sprache: Ihre viel gerühmte Musikalität brilliert stets da, wo sie, geschult an der Prosa der Romantiker und gekonnt ihr Tempo variierend, den immer euphorischer werdenden Seelenhaushalt des Pianisten widerspiegelt.

Hanns-Josef Ortheil: Das Verlangen nach Liebe. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2007. 400 S., 19,95 €

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