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Roman: Normal überdreht

Sibylle Berg erzählt in "Die Fahrt" umwerfend traurige Geschichten.

Was man am wenigsten erwartet hätte in diesem Buch, bei dieser Autorin: wie viel und wie oft hier geweint wird. Seit dem Werther sind in der Literatur nicht mehr so viele Tränen vergossen worden. Und es ist ja auch das reinste Elend, was uns hier vorgeführt wird, mal mehr, mal weniger dramatisch, aber immer mit Grund. Denn entweder lässt einem das Schicksal keine Chance oder man verpasst sie. Die Liebe ist ein Missverständnis, das Geld zu wenig oder zu viel, und sterben soll man auch noch.

Klingt nicht lustig und ist es auch nicht. Aber keine Angst, das gleich vorweg, Sibylle-Berg-Fans werden auf Ihre Kosten kommen. Bergs raffiniert-grobianisch abgemischter, zynisch-naiver Ton ist auch in diesem Buch die Domina aller Einfälle, und derer gibt’s hier eine Menge. In achtzig Kapiteln von um die zwei, drei Seiten werden etwa halb so viele Figuren ein Stück ihres Lebens verfolgt oder zumindest begleitet. Frank, Berlin heißt dann eines. Oder Ruth, Tel Aviv oder Mr Ling, Hongkong, und wenn eines später Frank, Reykjavik überschrieben ist, weiß man, dass da das Leben von Frank aus Berlin weitergeht. Oder zu Ende.

Es sind Leben wie du und ich, aber ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht, es muss also Vermutung bleiben, wie weit da übliche Biografien entworfen werden. Aber sagen wir mal so: Man kann sich das leider alles ganz gut so vorstellen. Das gilt jedenfalls für Frank, Pia und Ruth, ja selbst Helena. Das Leben von Igor aus der Ukraine, geschweige denn das von Parul aus Bangladesch allerdings nicht, was nicht heißt, dass man es Frau Berg nicht abnehmen würde, was sie über die erzählt, man liest ja schließlich auch Zeitung.

Was diese Biografien zusammenbindet, ist der Umstand, dass die meisten dieser Figuren nicht da bleiben, wo sie sind, sondern aufbrechen, um etwas zu finden, und sie können von Glück sagen, wenn sie mit dem Etwas das Glück meinen – meistens ist ihnen selbst nicht ganz klar, was sie treibt. So kommen sie nicht nur viel herum und wir mit ihnen, sondern sie kommen einander in die Quere und manchmal wie gerufen. Dazu braucht es natürlich arge Zufälle, aber da in diesen Geschichten ständig nahezu alles möglich ist, überrascht es nur selten. So kommt auch viel dritte oder zweieinhalbte Welt in den Blick, und das ist eine Welt, in der es nicht zuletzt Kakerlaken gibt, die sich in den Wohnungen breitmachen. In denen sitzen dann diese Frauen und Männer, die übrigens alle um die vierzig sind, und merken, dass die nächsten vierzig Jahre es auch nicht mehr bringen werden. Und dann kommt so eine Art Depression um die Ecke, und nie hat man das Gefühl, dass diese Depression jetzt unbedingt vermeidbar gewesen wäre. Wär sie eben nicht.

Das gibt all diesen oft umwerfend erfundenen Geschichten doch auch eine Art Grauschleier, die freundlicheren Ausblicke verdanken wir nur der Ausgleichsgerechtigkeit der Autorin, sie glaubt natürlich selbst nicht eine Sekunde daran.

Nein, Sibylle Berg ist gelernte Pessimistin, so jemand lässt sich nichts vormachen, aber natürlich muss die Frage erlaubt sein, ob sie vielleicht dem Leser etwas vormacht, ob sie unsere Kakerlakenwelt nur deswegen so chancenlos macht, weil sich das besser erzählen lässt – gemein gesagt: Weil sie das besser drauf hat.

Diese erlaubte Frage ist unzulässig. Die Wahrhaftigkeit des Erzählten hat ja nichts mit irgendeiner Art von Aufrichtigkeit der Autorin zu tun, sondern mit ihrer Fähigkeit, glaubwürdig zu erzählen. Und die Glaubwürdigkeit entscheidet sich nicht durch Recherche, sondern durch ein überzeugendes Erzählen. Dazu ist in diesem Fall zu sagen: Berg steht in der Tradition der französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts, sie teilt mit denen den scharfen Blick, die Rücksichts-, ja Gnadenlosigkeit ihres Urteils und – die Verliebtheit in den eigenen Ton, den Stil, die Manier.

Und da, lieber Sibylle-Berg-Fan, könnte ein Problem liegen. Berg-Texte sind ja unverkennbar, sollen es sein, auch hier. Ihre Manier, durch ständiges Übertreiben, slanghaftes ,Ich bin ein Normalo‘-Signalisieren und doch nur überdreht aufs ,Normale‘ schauen, beherrscht das ganze Buch. Oft genug muss man sich die klug und mit Empathie erfundenen Figuren erst aus der ständigen Kommentarlava freischaufeln. Immer sagt einem jemand, wie das zu sehen ist, was man da kaum erkennt. Bisweilen macht das, zum Beispiel bei dem politisch herrlich unkorrekten Blick auf muslimische Familien, erfrischend frei. Noch häufiger aber sind scheiß, Scheiße, beschissen weniger erkenntnisfördernd als perspektivisch einengend und können einem ganz schön auf den Geist/Sack/Hammer gehen.

Das alles hat aber auch seine unbestrittenen komischen Noten. So hat man die Wahl und konzentriert sich entweder aufs Witzige oder auf die an einigen Stellen überdeutlich fundamentale Kritik an der Art, wie wir mit unserem Leben umgehen und dem der anderen. Und worauf wir uns einbilden, einen Anspruch zu haben. Was wir nicht lernen, ja nicht einmal begreifen wollen. Und welche verheerende Wirkung die Erfindung des Individuums in unseren Köpfen angerichtet hat. Denn auch diese Dichterin möchte uns etwas sagen, und zum Glück nur selten in Sätzen wie diesem: „Umweltschutz und Mitgefühl waren ein Luxus, den sich nur die leisten konnten, die schon alles hatten.“

Macht nichts, meist ist sie schärfer. Und manchmal, wenn sie sich Zeit und auf ihre Figuren einlässt, so wie in der Helena-Geschichte, wo eine Unglücksräbin, die das Suchen nicht aufgibt, im brasilianischen Urwald ihre große Liebe gefunden zu haben glaubt und damit aber erst am Anfang einer wahren Odyssee steht, begleiten wir richtige Menschen, die sich um ihre Autorin einfach nicht mehr kümmern und sich in ihr Elend nicht reinreden lassen. Und das absolut glaubwürdig.

Sibylle Berg: Die Fahrt. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 256 Seiten, 18, 90 €

Jochen Jung

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