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Roman: Vampir in Venedig

Stirb und werde: Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Welt aus Glas“.

Ich musste das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindbar sichtbar machen“, beschrieb Hermann Hesse die Intention seines Hauptwerks „Das Glasperlenspiel“. Nichts Geringeres scheint auch Ernst-Wilhelm Händler bei der Abfassung seines sechsten Romans vorgeschwebt zu sein. Der Titel „Welt aus Glas“ ist Programm: Nicht nur die Seele der Glaskunst, sondern auch das Geld und der Tod treten personifiziert in einer Art „Jedermann“-Variation in Erscheinung. Mit umfassenden Sprach- und Wirklichkeitserkundungen im Geiste Hermann Brochs und Robert Musils verschaffte sich Händler als konstruktivistischer Großromancier Respekt.

Nun macht er in seiner ersten veritablen American Novel unzähligen Superlativen Beine. So betreiben die beiden Hauptpersonen des Romans, das Ehepaar Jillian und Jacob Armacost, nicht irgendeine Galerie für Glaskunst, sondern die größte New Yorks; und die erst 27-jährige Jillian gilt einigen ihrer hochmögenden Kunden gar als „größte Glasgaleristin der Welt“.

Die scheue Lesbe leidet unter einer Lichtallergie, die sie das Tageslicht meiden lässt, was ihr das Flair einer edlen Vampirin verleiht. Stets empfindet Jillian eine „charakteristische Fremdheit zwischen ihrem Leben und ihren Beziehungen“. Mit dem doppelt so alten Jacob verbindet sie eine platonische Zweckgemeinschaft. Der prahlerische Frauenheld neigt zu Kurzschlusshandlungen. Deshalb droht den Armacosts der Verlust ihrer Galerie, was Jillian mit ihrer Europareise zu verhindern sucht.

„Viaggio in Italia - Reise in Italien“ heißt ein Melodram von Roberto Rossellini aus dem Jahr 1954 mit Ingrid Bergman. Darin wird ein sich gleichgültig gewordenes britisches Ehepaar durch die teils verstörende Begegnung mit Süditalien wieder zusammenführt. In „Welt aus Glas“ erlebt man das seltsame Paar Armacost nie gemeinsam: Wie zwei Filme laufen auf 600 Seiten die beiden Handlungsstränge nebeneinander her, der eine auf den Highways und in den Wüsten Mexikos, der andere in Mailänder Boutiquen und venezianischen Palazzi. Jacob wird in der Neuen Welt entführt und lernt dadurch ein anderes Amerika kennen, Jillian bewegt sich im Herzen der vermeintlich vertrauten Alten Welt.

Quasi mit quietschenden Reifen eröffnet der 1953 in Regensburg geborene Ernst-Wilhelm Händler sein Roadmovie - mit einer Verfolgungsjagd, Jacobs und Madelines Entführung sowie ihrer anschließenden Geiselhaft. Die in ihrer Ehe frustrierte Kunstkäuferin Madeline hatte die kühne Idee entwickelt, den Grenzzaun, der die USA von ihrem armen Nachbarn Mexiko trennt, aus Glas herzustellen. Dieses gigantische Abgrenzungs-Skandalon hatte bereits der Kalifornier T.C. Boyle in seinem bitter satirischen Roman „América“ thematisiert. Auch Händler, der vor Ort recherchierte, nutzt die Gelegenheit, sein Upperclass-Epos für sozialkritische Exkurse zu unterbrechen. Jacob, immer auf der Suche nach einem Abenteuer, begleitet seine Kundin bereitwillig: „Er war bereit, jede Frau zu ficken, wenn sie attraktiv genug war. Madeline glaubte tatsächlich, dass eine Glaswand eine Möglichkeit für die Grenze sein könnte.“

Jacob gerät durch die permanente Lebensgefahr erstmals ins Grübeln. Er sieht sich aus dem Zentrum des Weltgeschehens katapultiert und mit den stoischen Nachfahren der Azteken konfrontiert. Währenddessen ergibt sich seine Frau der ausgestellten Leere eines Armani- oder Prada-Megastores in der Mailänder Innenstadt. „Shopping in Milano“ heißt dieses Kapitel, das wie im Steppschritt geschrieben ist: Jeder Straßenname vom Corso Buenos Aires bis zur feinen Via della Spiga wird mit Bedeutung aufgeladen und penetrant wiederholt.

Sollte das karikierend gemeint sein, so verfehlt der Autor, eigentlich ein Meister der Rollenprosa und der Fragmentierung des Bewusstseins seiner Figuren, diesmal sein Ziel schlichtweg durch Übertreibung. Im Überschwang macht er gar aus der berühmten „Madonnina“ auf dem Mailänder Dom einen männlichen „goldenen Heiligen“. Ernst-Wilhelm Händler, der selbst Glaskunst sammelt, porträtiert Jillians Kunden mit so klingenden Namen wie Carofiglio oder Buonavolontà mit all ihren Allüren. Wie in seinem Wirtschaftsroman „Wenn wir sterben“ (2002) geht es dem schreibenden Unternehmer nicht allein um die Karikatur, sondern auch um die Faszination durch den Kapitalismus und dessen Vitalität.

Ein Roman über Geld, Kunst und Tod, ausgestattet mit einem pastellfarbenen Umschlag des Leipziger Malers Neo Rauch. Wie dessen Motive im Ungefähren bleiben, so ist auch „Welt aus Glas“ weder Fisch noch Fleisch. Denn die durchaus packende und stets sehr körperzentrierte Handlung wird durch überbordende Exkurse über das Wesen der Glaskunst unterbrochen, die seltsam geschraubt wirken.

Jacob und Jillian wachsen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod über sich hinaus. Während Jacob diese Transzendenzerfahrung den aus seiner Sicht primitiven Nachfahren der Azteken verdankt, gönnt der Autor seinem ätherischen Liebling Jillian einen Kunst-Tod samt Wiedergeburt. Das Geschäft ist abgeschlossen, die millionenschwere Martinuzzi-Samlung verkauft, die New Yorker Galerie gerettet. Das bedeutet den „Tod“ der bisherigen „kapitalistischen“ Jillian.

Im Grandhôtel Des Bains, in dem bereits Thomas Mann den „Tod in Venedig“ ansiedelte, wird nun eine vampiristische Wiedergeburt zelebriert. An dieser Stelle ist „Welt aus Glas“ längst zum Künstlerroman mutiert: ein wunderliches, überambitioniertes Textgefäß, dem der letzte Schliff fehlt.

Ernst-Wilhelm

Händler: Welt aus Glas. Roman.

Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 2009. 608 Seiten, 25 €.

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