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Roman: Wie schön muss es sein, das Leben zu lassen

Eine Entdeckung: Der autobiografische Roman von Michel Matveev „Die Gehetzten“ erzählt von einer Flucht ohne Ende.

„In ruhigem gleichmäßigem Schritt, eine ungeheure rote Fahne voran, kommt eine Abteilung Reiter vom Bahnhof herunter.“ In einem Roman, der „Die Gehetzten“ heißt, kann ein solcher scheinbar gelassener erster Satz nur etwas Entsetzliches ankündigen. In diesem Fall ein wahnwitziges Strafgericht, das über Menschen abgehalten wird, deren Verbrechen es ist, Juden zu sein. Es ist der Beginn eines der zahlreichen Pogrome, denen die Juden im europäischen Osten ausgeliefert waren, hier 1919 in den Wirren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Russland. Und es ist der Beginn eines Romans, der eine einzige Leidensgeschichte schildert und den man doch nicht aus der Hand legen mag, ehe man an sein tristes Ende gelangt ist. Dieses Buch und sein Autor sind eine Entdeckung, für die man nur dankbar sein kann.

Michel Matveev wurde, wie man im informativen Nachwort des Übersetzers Rudolf von Bitter erfährt, 1892 als Joseph Constantinovsky in Jaffa geboren, wuchs in Odessa auf, wo er später auch Malerei und Bildhauerei studierte, ehe er während der Revolution Kunstinspektor der Kindergärten und Arbeiterclubs in Moskau und Petersburg war. Den Pogromen, deren Opfer auch sein Vater und sein Bruder wurden, entkam er per Schiff nach Palästina, von wo er 1923 nach Paris ging. Dort arbeitete er nicht ganz erfolglos vor allem als Tierbildhauer, unter dem Namen Michel Matveev auch als Schriftsteller. Von seinen vier Büchern ist dieses, 1933 bei Gallimard erschienen, das zweite.

Rasch zeigt die Lektüre, dass man es mit autobiografischer Fiktion zu tun hat, die Parallelen der Erzählung mit dem Leben des Autors sind offenkundig. Umso mehr versetzt der Ton des Ich-Erzählers von Beginn an in ein ebenso klammes wie angespanntes Lesen: Ungeachtet der starken, auch metaphorischen Bilder bleibt dieser Ton nüchtern, referierend, ja herzlos, was bisweilen geradezu wie eine Art heiliger Zynismus wirkt – etwa, wenn im bittersten Moment jemand sagt: „Wie schön es sein muss, sein Leben zu lassen“, und kurz darauf ein anderer Satz das konterkariert: „Wir betrachten das Leben, das da ist, vor unseren Augen und prachtvoll.“ Autoren wie Israel Rabon, Bruno Schulz, ja auch Herta Müller stehen in dieser osteuropäischen Tradition, immer da Kälte zu suggerieren, wo das Herz andernfalls zu zerreißen droht.

Der Erzähler – namenlos wie alle Figuren in diesem Buch – gerät mit seiner Familie zwischen die Fronten. „Man tötet die Juden, wie sich’s trifft,“, heißt es. Sie kommen nach Rumänien, und er und sein Bruder werden als vermeintliche (oder auch nicht vermeintliche) Bolschewiken festgenommen, zumal beide keine Papiere haben, mit denen sie sich ausweisen könnten.

Von da an beginnt ein wahrhaft zermürbender Weg durch Ämter und Gefängnisse, und das Einzige, worauf sie sich verlassen können, ist die Gewissheit, dass sie von dem Büro, in dem ihnen die baldige Freiheit versprochen wird, mit Sicherheit wieder in die nächste Zelle kommen, wo sie auf andere treffen, denen es nicht anders ergeht als ihnen selbst: „Es werden uns Papiere ausgestellt, die dazu dienen, andere Papiere zu erhalten, die ihrerseits notwendig sind, weitere Papiere zu erhalten, und so weiter.“ Jedes Mal scheinen sie weiterzukommen, in Wahrheit aber werden sie nur bewegt wie ranzige kleine Fettaugen auf einer stinkenden Brühe, in der irgendwer ohne Sinn und Verstand gelegentlich herumrührt. Hunger, Durst, Prügel, Seuchen sind ihre Begleiter, Verrat, Niedertracht, Ekel und Angst ihre tägliche Erfahrung.

Am schlimmsten ist das Warten. Man sitzt im Amt der rumänischen Sigurantza, dem Vorgänger der Securitate, und wartet. Man ist nicht allein, viele warten, dass etwas mit ihnen geschieht, dass sie aufgerufen werden, zum Verhör, wenn es gut geht, zum Schlagen, zur Folter, wenn es schlecht geht. Meist zu beidem. Die Ungewissheit, die sich ständig als Gewissheit meldet, dass am Ende des Wartens das Ende wartet, das ist am schwersten zu ertragen. Und dass man mit den anderen zwar reden kann, dass aber die Schrecken, von denen diese wieder berichten, das bisschen gebliebenes Leben noch aussichtsloser machen. So wächst im Beieinanderhocken die Einsamkeit.

Aber dann, wie ein Heiligenbild im Unrat, eine unvergessliche Szene: Der Bruder in einem Kellerloch der Staatssicherheit, und das Licht kommt von oben durch ein Gitterfenster in der Höhe des Gehsteigs. So sieht der Gefangene hinauf, dorthin, wo seine Frau auf der Straße ihre Runden dreht, immer wieder kommt sie am Fenster vorbei, ruft ihm zwei, drei Wörter zu, hört Fetzen der Lieder, die er für sie pfeift, und ehe sie der wachhabende Polizist vertreibt, geht sie wieder und kehrt doch zurück.

Dann, endlich, das Schiff nach Palästina. Und sie kommen auch dorthin, nach Jaffa, aber sie dürfen nicht aussteigen, die Engländer sperren den Hafen wegen irgendwelcher Unruhen, auch die Nachbarhäfen nehmen sie nicht auf, mal mit dieser, mal mit jener Begründung. Es beginnt über Beirut, Alexandria, Konstantinopel, Piräus, Brindisi und Nordafrika eine Kreuz- und Querfahrt der unentwegten Täuschung und Enttäuschung, bis sie endlich in Marseille sind und von dort tatsächlich nach Paris gelangen.

„Warum abreisen“, hatte jemand den Erzähler gefragt. „Es ist überall gleich… nichts verändert sich im Leben. Nichts!“ Aber jetzt sind sie doch in Paris, denkt man, Rettung und Freiheit werden jetzt das Leben bestimmen. Und dennoch: Am Ende kommt der fürchterlichste Satz in diesem gewaltigen Buch, ein Satz, der in drei Wörtern die Botschaft bündelt: „Man muss leben.“ Man muss.

Das Nachwort zitiert eine Passage in Thea von Sternheims unerschöpflichem Tagebuch, in der sie von einem Treffen im Pariser Café des Deux Magots berichtet, wo sie mit einigen Herren zusammensitzt, darunter Joseph Roth und Michel Matveev, dessen hier vorliegender Roman „Les Traqués“ gerade erschienen ist. Roth stellt Matveev den anderen als „unvergleichlichen Dichter“ vor. Recht hatte er.

Michel Mateev:

Die Gehetzten.

Roman. Aus dem

Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf von Bitter. Weidle Verlag, Bonn 2010. 232 Seiten, 23 €.

Jochen Jung

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