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''Säubern und Vernichten'': Logik des Massakers

Das Töten wird zum sakralen Akt: Jacques Sémelin analysiert Völkermord und Massenmord. Im Zentrum seines Buches steht der Versuch, den Ablauf von Massakern besser zu verstehen.

Was Völkermorde sind, ist in den USA längst Gegenstand vielfältiger Forschungen. In Europa hingegen steckt die Disziplin noch in den Kinderschuhen. Um einer vergleichenden Völkermordforschung neuen Schwung zu geben, hat der Historiker, Politologe und Psychologe Jacques Sémelin 2005 in Frankreich eine umfangreiche Studie zur Massengewalt vorgelegt. Ihre deutsche Übersetzung liegt jetzt vor.

Gleich zu Anfang stellt Sémelin fest, dass er den Begriff des Völkermordes eher skeptisch betrachtet, da er ihn als zu „anfällig für alle möglichen identitären und politischen Instrumentalisierungen“ sieht: „Wer heute vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Opferstatus beansprucht, versichert, dass er Opfer eines Völkermords ist.“

Sémelin glaubt deshalb, dass man den Begriff als eine Unterkategorie der „Verbrechen gegen die Menschheit“ ansehen sollte und ihn auf den tatsächlichen Versuch der Ausrottung einer Großgruppe begrenzen müsse. Neben dem Genozid sei es darüber hinaus sinnvoll, drei verschiedene Formen von Vernichtungspraktiken zu unterscheiden: aufständische Massaker (wie etwa die Anschläge der Al Qaida), unterwerfende Massaker (wie die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki) und ausrottende Massaker (wie die Vernichtung der Armenier).

Im Zentrum des Buches steht der Versuch, den Ablauf von Massakern besser zu verstehen, insbesondere dem Umschlag von der Idee zur Tat auf die Spur zu kommen. Immer wieder rekurriert der Autor dabei auf die Vernichtung der europäischen Juden (1933–45), die Massaker in Ruanda (1994) und die Bürgerkriege auf dem Balkan (1990–95). Am Anfang steht immer eine gesellschaftliche Krisensituation, die Ängste auslöst. Diese Ängste können jedoch nur dann „scharfgemacht“ werden, wenn sie mit Hilfe einer Ideologie auf einen Feind gerichtet werden, der – angeblich – die Ursache für die Krise bildet.

Dies klingt alles noch sehr bekannt. Neu dagegen ist Sémelins Idee der „Opfergewalt“, die er unter Rekurs auf den Religionsphilosophen René Girard entwickelt. Mit „Opfergewalt“ ist gemeint, dass im Töten, im Massaker selbst, ein Akt der Konstitution einer Gruppe stattfindet: „Die Gruppe wird“, schreibt Sémelin, „durch die Gewalt neu begründet, und zwar durch die Opferung derer, die man für die Krise verantwortlich macht.“ Das Töten selbst wird im Massaker zum sakralen Akt. Die Gewalt sorgt für Sicherheit, wo vorher Unsicherheit ist, „indem sie zwischen ihnen und uns unüberwindliche Schranken errichtet“.

So klar und anregend das Buch in der Analyse unterschiedlicher Aspekte von Massentötungen ist, so hilflos lässt es die Leser bei der Frage, ob und wie Massenmorde erfolgreich blockiert werden können. Schon 2004 schrieb der Autor: „Einige glauben an ein Frühwarnsystem … Doch solange Staaten, von den eigenen egoistischen Interessen verblendet, keinen politischen Willen entwickeln, entsprechend aktiv einzugreifen, bleiben derartige Vorschläge zur Massenmordprävention fromme Wünsche.“ Insbesondere den amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus sieht der Autor als wesentliche Ursache für blockierte Überlegungen zur Völkermordprävention. Den „humanitären Interventionen“ der 90er Jahre seien die „sicherheitspolitischen Interventionen“ der Gegenwart gefolgt.

Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 450 Seiten, 40 Euro.

Martin Jander

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