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SCHREIB Waren: Zeit zu handeln

Von Vergangenheit und Zukunft handeln die Bücher des literarischen Frühlings.

An diesem Wochenende stellte der Fernsehjournalist Gert Scobel in der FAZ einen alten japanischen Text vor, der nun endlich auf Deutsch erschienen ist: „Shobogenzo“, das Meisterwerk des Zenmeisters Dogen Zenji, der im 13. Jahrhundert lebte und den Versuch unternahm, die Erfahrung der Erleuchtung in Worte zu fassen. Eine Facette der Erleuchtung bestehe in dem permanenten Bewusstsein, dass wir „weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft leben“ können, dass die „einzige Zeit, in der wir wirklich handeln können, die des gegenwärtigen Augenblicks ist“. Warum spielen Vergangenheit und Zukunftsbilder bei uns trotzdem so eine große Rolle? Vieles spricht dafür, dass dies auch an den abendländischen Vorstellungen von Schuld (in der Vergangenheit!) und Vergebung liegt, der wir in Zukunft teilhaftig werden, wenn wir uns lang genug mit dem Früher auseinandergesetzt haben.

Von diesem Psycho-Deal lebt auch unsere Literatur offenbar recht gut. Der Bücherfrühling ist da, schreibt das Literarische Colloquium Berlin und stellt am Donnerstag bei seinem traditionellen Saisonauftakt (Am Sandwerder 5, 20 Uhr) fünf Autoren vor: überall Traumata, schwarze Löcher in der Vergangenheit, wiedergängerische Seelen unerlöster Toter. Nora Bossongs Roman „Webers Protokoll“ zum Beispiel handelt einerseits von einem deutschen Diplomaten unter Hitler und andererseits von einem Nachkriegsdeutschland, „in dem jeder das Vergangene vergessen machen will“. In „Späte Störung“ von Dirk Dobbrow geht es um einen beruflich erfolgreichen Familienvater, dessen heile Welt ins Wanken gerät, als seine Tochter einen älteren Mann mit nach Hause bringt – Gideon ist ein verdrängter alter Freund, mit dem auch die Erinnerung an ein frühes Verbrechen zurückkommt.

„Eine exklusive Liebe“ wiederum, das erste Buch der Journalistin Johanna Adorján, handelt von einem ungarischen jüdischen Großelternpaar, das die Schoah überlebte, 1956 während des Aufstandes von Budapest nach Dänemark übersiedelte und sich 1991 gemeinsam das Leben nahm. Dabei geht es auch um den Versuch der Erzählerin, sich über die Biografie ihrer Vorfahren des eigenen Selbst zu vergewissern. Auch Karin Reschke reist in ihrem Roman „Kalter Hund“, den sie am Freitag im Literaturhaus (Fasanenstr. 23, 20 Uhr) vorstellt, tief in die Vergangenheit, in das Berlin der fünfziger Jahre, in dem sich die junge Rose fragt, warum die wortkarge Mutter ihren geliebten Vater, einen Schauspieler und Radiomann, verlassen hat. Zimmer werden in dieser Familie über Jahre verschlossen gehalten, um Erinnerungen auszusperren – bis Rose schließlich an den Schlüsseln dreht.

Im Buddhismus führt Veränderung, Heilung und Freiheit nicht über die Vergangenheit. Man setzt sich einfach hin und konzentriert sich auf den Moment. Wovon gäbe es dann zu erzählen?

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