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Schreibwaren: Autoren an die Wand werfen

Skype sei Dank: Steffen Richter besucht Lesungen ohne Schriftsteller.

Kürzlich bei einer Lesung: Menschen starren auf eine Beamer-Projektion. Erst erscheint die Stimme, dann das Bild des Autors. Unser Mann lebt in North Carolina. Hat Reisereportagen geschrieben. Doch weil selbst routinierte Reisende nicht an zwei Orten zugleich sein können, ist er zur Lesung virtuell erschienen. Skype, der Videotelefonie im Internet, sei Dank.

Da reden wir über E-Books und vergessen, dass sich auch der Lesebetrieb im Digitalzeitalter wandeln könnte. Ein anderes Beispiel: Der kleine, frische Galiani Verlag hat ein Überbuch herausgebracht, das behauptet, überall dabei gewesen zu sein. Als Rom brannte, Heinrich IV. nach Canossa pilgerte, die Titanic unterging. Das toll aufgemachte Riesenkonvolut „Nichts als die Welt“ versammelt 180 Augenzeugenberichte, Text- und Fotoreportagen aus den letzten Jahrtausenden, zusammengestellt vom früheren „Du“-Redakteur Georg Brunold. Brunold wird nicht vor Ort sein, wenn Galiani-Chef Wolfgang Hörner und Journalist Lothar Müller das Buch am 2.11. im Festsaal Kreuzberg vorstellen (Skalitzer Str. 130, 19.30 Uhr). Er wohnt in Nairobi. Interviews mit ihm bietet der Verlag aber an: via Skype oder altmodisch. Per Telefon.

Dabei ist es erst zehn Jahre her, dass der erste literarische Blogger des Landes, Rainald Goetz, sein Tagebuch „Abfall für alle“ in einen Raum tippte, den er „Internetzl“ nannte. Damals, in der „Steinzeit der elektronischen Welt“, entstand eine Institution, die das Globalisierungspotenzial des Internets für subtile Spracharbeit zu nutzen verstand: www.lyrikline.org, Ort für „World Wide Poetry“. Angestoßen von der Literaturwerkstatt Berlin, ist diese Website längst ein internationales Projekt. 5500 Gedichte von 600 Autoren lassen sich in 50 Sprachen hören und lesen (Herta Müller auf Deutsch und Rumänisch). Natürlich verlangt das zehnte Jubiläum eine Feierwoche (www.literaturwerkstatt.org). Sie endet am 31.10. (20 Uhr) im Tape Club (Heidestr. 14, Mitte) mit Lyrikern aus Kanada und Malawi. Das kann man – online mitverfolgen.

Wem bei so viel Virtualität schummrig wird, der begebe sich am 28.10. (20 Uhr) ins Literaturhaus (Fasanenstr.23, Charlottenburg). Dort zeigt der leibhaftige ungarische Philosoph László Földényi, was rationalem Denken blüht, wenn es alles Irrationale aus seinem Kosmos ausschließt. „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ (Matthes & Seitz) heißt sein inspirierender Essay. Wie aber ist es diesbezüglich ums bestimmende Medium der Gegenwart bestellt? Im Web, einst zur Rationalisierung der Kommunikation am Kernforschungszentrum Cern konzipiert, sprechen Blogger heute von hashtaggen und trackbacken. Rational oder irrational?

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