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Schriftsteller: Tausendtalent Claudio Magris

Als Literaturwissenschaftler schreibt er mit essayistischer, oft hochpoetischer Verve, als Erzähler weiß er sich im Bannkreis des Gelehrten: Dem Schriftsteller Claudio Magris zum 70.

In einem kleinen Essay hat Claudio Magris 1993 über seine mannigfachen Grenzerfahrungen nachgedacht. Für sich selbst wollte er einschränkende Reglements nie akzeptieren. Seine geistige Existenz lebt aus der Verschiebung von Grenzen. Als Literaturwissenschaftler schreibt er mit essayistischer, oft hochpoetischer Verve, als Erzähler weiß er sich im Bannkreis des Gelehrten. Der Leitartikler streift den kulturhistorischen Horizont, um sich der Aktualität zu versichern. Seine Heimat ist eine vielgemusterte, von Fremde überlagerte Stadt an der Adria: Triest, dem er 1987 ein Buch widmete, erscheint als Inbild marginaler Mitte, als Metropole eines Bewusstseins, das sich den verschollenen Bezügen, dem versunkenen Zusammenhang, den Bruchflächen der Trümmer widmet.

Er hat der Zukunft vorgeschrieben, als er Vergangenheit skizzierte. Er hat den Mythos Mitteleuropa wieder aufgerufen, als er noch eine system- und blocksprengende Energie aufwies. Das war, 1966, die Tat eines Doktoranden: Der kulturhistorische Deuter des Habsburger-Erbes erschien als Kartograf eines vielleicht erneuerbaren politischen Schutzraums. Seinen Götterhimmel für dieses Territorium hat er eigens entworfen: Hofmannsthal, Joseph Roth und das Ostjudentum, Kafka, Italo Svevo, Robert Musil und Robert Walser gehören dazu. Der Übersetzer Claudio Magris hat vieles dazu getan, dass seine italienischen Landsleute auch die fremden Sterne am mitteleuropäischen Firmament kennenlernten.

Am besten nähert man sich dieser quecksilbrig lebendigen Größe über das Wasser: mit Blick auf die Adria wie in „Ein anderes Meer“ (1992) oder indem man sich treiben lässt wie in dem grandiosen „Donau“-Buch von 1988, der „Biografie eines Flusses“, der von der Quelle in Donaueschingen bis zum rumänischen Delta in einer einzigen erzählerischen Bewegung an Orten, Denkmälern, Landschaften, Menschen, Episoden vorbeiführt.

Claudio Magris hält noch viele andere Rollen besetzt: Er ist zur Freundschaft begabt, ein Fußball-Liebhaber, ein leidenschaftlicher Kaffeehaus-Insasse. Als Flaneur betätigt er sich wiederum in seinen soeben in seinem Stammverlag Hanser auf Deutsch erschienenen Reisebildern „Ein Nilpferd in Lund“. Es sind Entdeckungen auf Papier und in der Wirklichkeit: im Spanien des Cervantes, bei den Lausitzer Sorben, in Vietnam und in Mexico City – leichthändige Übungen über die Vergänglichkeit und den Wechsel der Dinge, in die Farben der Melancholie getaucht, von kulturgeschichtlichen Kenntnissen animiert, mit dem Ironikervergnügen am Bizarren gemustert.

Es heißt, dass Claudio Magris am morgigen Freitag siebzig Jahre alt wird. Seine behende Jugendlichkeit setzt über solche Merkdaten hinweg, wovon man sich demnächst auch in Berlin überzeugen kann. Am 24. April wird in der Italienischen Botschaft sein von Ragni Maria Gschwend übersetzter Roman „Blindlings“ mit dem Premio Campiello Deutschland ausgezeichnet, der seit vier Jahren die Verbreitung italienischer Literatur im Ausland fördert. Wilfried F. Schoeller

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