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Soziologie: Das fragile Geschlecht

Stärke, Ehre und Macht sind nicht mehr gefragt: Walter Hollstein konstatiert eine Krise der Männer

Das neue schwache Geschlecht“, „Jungs in Not“, „Männliche Bildungsverlierer“, „Sind Jungen das schwächere Geschlecht?“, „Schlaue Mädchen, dumme Jungs“, „Was vom Mann noch übrig ist“ und immer so fort. Wer die alarmistischen Überschriften und Buchtitel aus den letzten 20 Jahren zur Entdeckung der männlichen Talfahrt liest, kann schnell den Eindruck bekommen, Jungen seien eine (aus)sterbende Art. Schwach, krank, aggressiv, egozentrisch, eitel, laut, gewalttätig und absolut unnütz. Jungen stören, Männer stören auch, vor allem in unserer auf Androgynität gepolten westlichen Welt, wo man uns seit ein paar Dekaden weismachen will, dass es nur einen kleinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gäbe und dass männliches, natürlich defizitäres Verhalten komplett akkulturiert sei.

Was ist los mit den Jungs, was ist los mit den Männern? Das starke Geschlecht scheint auf der Verliererstraße, wenn man den Popsoziologen, Männerforschern und Psychologen glaubt. Die Jungen und modernen Männer hängen angeblich völlig überholten Vorstellungen von Heldentum, Stärke, Ehre und Macht nach. Ihr Problem sei ganz einfach, dass sie ihre weiche, ihre feminine Seite nicht zulassen.

Allerlei merkwürdige Thesen, Vorschläge, Ansinnen, wie der männliche Mann für die feministischen Träume gezähmt werden könnte, fasst etwa der Schweizer Soziologe Walter Hollstein in seinem Buch „Was vom Manne übrig blieb – Krise und Zukunft des starken Geschlechts“ zusammen, ohne freilich überzeugende Lösungen oder wenigstens frische Denkansätze für das angebliche Dilemma des modernen Mannes anzubieten. Es sei denn, man hielte mit dem Autor Sebastian Deisler, den genialen, aber leider auch depressiven Fußballer, für das taugliche Modell einer weichen, seiner Kampfes- und Wettbewerbslust entkleideten Männlichkeit. Für Hollstein, das macht schon der Titel seines Buches deutlich, ist der Niedergang des Mannes eine Tatsache. Zwar konzediert er, dass der Feminismus das „Selbstverständnis des Mannes unterminiert“ und seit Jahren „männliche Herrschaft schonungslos seziert“ habe, stellt aber diese Unterminierung durch eine weibliche Minderheit kaum in Frage. Zehn Seiten Literaturangaben und nirgendwo wird eine eigene Utopie destilliert, wie eine Männlichkeit heute aussehen könnte, die Männer nicht verbiegt.

Früher wurde nie von der Krise des Mannes gesprochen. Männer waren stark, groß, erfinderisch, kämpferisch und trugen Verantwortung im Staat, in der Familie, im Beruf, auf dem Schlachtfeld. Dabei waren Männer schon immer das „fragile“ Geschlecht, wie der englische Jugendpsychiater Sebastian Kraemer vor Jahren formulierte. Sie haben eigentlich nur einmal die Pole Position – bei der Befruchtung. Danach geht es immer nur abwärts: mehr vorgeburtliches Sterben, mehr nachgeburtliches Sterben, mehr Tot- und Frühgeburten. „Mit fünf hängen die Buben durchschnittlich sechs bis neun Monate hinter den Mädchen in ihrer Lese- und Schreibfähigkeit hinterher“, schreibt der Harvard-Psychologe William Pollack. Jungs haben mehr Behinderungen und Krankheiten wie Stottern, Autismus, Zappelphilippsyndrom, brechen die Schule häufiger ab, begehen häufiger Selbstmord und mehr Morde, verursachen häufiger Unfälle, fallen leichter dem Alkoholismus zum Opfer und haben allgemein eine kürzere Lebenserwartung.

Diese horrende Belastung hat die fragilen Kerle freilich nicht gehindert, wunderbar zu schreiben, zu malen, zu bildhauern, zu denken, zu komponieren, zu bauen und zu erfinden. Es sieht auch nicht so aus, als ob diese Fähigkeiten alle auf der Verliererstraße enden würden. Die männlichen Fähigkeiten in der Mathematik, Physik, dem Ingenieurwesen, der Komposition, um nur die offensichtlichen zu nennen, erfreuen sich guter Gesundheit, keine Spur von Degeneration. Die Mädchen mögen in der Mathematik und den Naturwissenschaften aufgeholt haben, sie streben trotzdem, auch bei entsprechender Begabung, seltener in die Ingenieur- oder IT-Berufe. Sie wollen oft lieber etwas anderes machen, Ärztin oder Biologin werden, Anwältin oder Richterin. Und das nicht, weil sie nicht dürfen oder ausgegrenzt werden, wie amerikanische Studien berichten, sondern weil sie es so wählen. So werden wir wohl noch viele Jahrzehnte hauptsächlich männliche Nobelpreisträger der Physik oder Chemie, der Medizin oder der Ökonomie erwarten können.

Die sogenannte Krise der Jungen ist nämlich nicht die Krise aller Jungen, sondern nur bestimmter Jungen. Jungen führen unterschiedliche Leben in ihren Familien, Schulen, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft. Sie sind nicht gleich. Sogenannte Eliteinstitutionen, ob Schulen oder Colleges, haben nämlich dem Abwärtstrend widerstanden. Es ist darum auch nicht sinnvoll, zu fragen: „Sind die Jungs in Gefahr?“ Für Schulen müsste die Frage eher lauten: „Welche Jungs sind in Gefahr?“ So fokussiert, könnte vielen Jungen (und auch Mädchen), die gegenwärtig als Risikoschüler gelten, geholfen werden. Der australische Professor Richard Teese hat nachgewiesen: Je weiter oben auf der sozialökonomischen Leiter die Kinder angesiedelt sind, desto weiter gehen die Nachteile für Jungen – und auch Mädchen – zurück. Auch die Geschlechterunterschiede in einerseits Englisch und andererseits Mathe und Physik sind um so geringer, je besser die wirtschaftliche Situation der Eltern ist. Je tiefer wir die sozioökonomische Skala indes herabsteigen, desto größer werden die Geschlechterunterschiede in den Leistungen: Die Mädchen scheitern in Mathe, die Buben in Sprache und Literatur.

Auch wenn die Forschung manches jetzt erst unter die Lupe nimmt, neu ist nicht alles. Schon immer wurden Buben als Zumutung empfunden. So kannten schon die Römer den Spruch „Jungs sind eben Jungs“. Sie waren stets wandelnde pädagogische Desaster. Ihre sprachliche Beschränktheit wurde schon vor Jahrhunderten beklagt. So lamentierte John Locke 1693 über die Unfähigkeit der jungen Herren, „Leichtigkeit, Klarheit und Eleganz“ in der englischen Sprache zu entwickeln. Ein Zeuge der Londoner Schulkommission von 1868 beobachtete bereits lange vor Feminismus und Geschlechterhysterie: „Die Mädchen kommen, um zu lernen, Buben muss man antreiben.“ Aus dem australischen New South Wales zeigen Statistiken seit 1884, dass Mädchen stets proportional besser abschnitten als die Jungen, außer in Mathe, Geologie, Musik und Naturwissenschaften. Die Mängel so vieler Jungen, wie ihre sprichwörtliche Lesefaulheit, wären vor 40 Jahren nicht weiter aufgefallen: Mädchen waren keine Konkurrenz und die Arbeitswelt rief (noch) eher nach Muskelkraft als nach Sprachvermögen. Dienstleistungs- und Kommunikationsjobs erfordern indes sprachliche Fähigkeiten, und die sind die natürliche Domäne der Mädchen. Die Schulen (und Eltern) haben in den vergangenen Dekaden die Mädchen nicht unbedingt bevorzugt, aber versäumt, die Jungen an die veränderte Arbeitswelt heranzuführen. Und just dann, wenn die armen Buben in der Pubertät von Testosteron überschwemmt werden, wird ihr Lehrplan mit sprachlichen Anforderungen getränkt. Das ist allemal für die Jungen aus der Unterschicht wie ein Todeskuss. Die Pädagogik passt nicht zur Biologie.

Die Erwartungen der überwiegend weiblichen Lehrerschaft passen auch nicht zur Biologie der Buben. Die hätten die Buben gern wie die handzahmen Mädchen. Nur: Jungen sind keine Mädchen, sie sind genetisch und hormonell anders konstruiert, und ihr Gehirn funktioniert anders. Auch mit massivem kulturellen Druck wird man aus den Buben keine Mädchen machen. Man muss die Geschlechterunterschiede ernst nehmen, fordert in dem gleichnamigen Buch „Taking Sex Differences Seriously“ der amerikanische Politologe Steven Rhoads. Daraus folgt, dass man Jungen und Mädchen in der Schule nicht gleich behandeln sollte, von ihnen leistungsmäßig aber das Gleiche erwarten kann.

Jungen sind stets lieber aktiv als passiv. Heute ist das problematisch, weil der Mangel an Sprachkompetenz so manchem Jungen die Zukunft ruinieren wird. Die vielen gescheiterten jungen Männer am sozialen Rand sind schon heute ein trauriger Beleg dafür. Keine postindustrielle Gesellschaft wird sich die Einbahnstraße in Arbeits- und Bedeutungslosigkeit von etwa zehn Prozent ihrer jungen Männer auf Dauer leisten können. Jungentypisches Verhalten zu pathologisieren und allgemein über ihr So-Sein in Panik zu verfallen, ist freilich der denkbar schlechteste Ansatz zur Lösung des Problems.







– Walter Hollstein:
Was vom Manne übrig blieb. Krise und Zukunft des starken Geschlechts. Aufbau Verlag, Berlin 2008. 304 Seiten, 19,95 Euro.

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