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Ulrich Peltzer: "Teil der Lösung"

Ästhetik und Widerstand: Mit seinem Roman rettet Ulrich Peltzer die politische Literatur.

Von Gregor Dotzauer

Manchmal sieht man noch ein Zucken. Ein Zeigefinger fährt in die Luft, eine Hand versucht, sich mit letzter Kraft zur Faust zu ballen. Doch an der grundsätzlichen Diagnose führt kein Weg vorbei: Die Geschichte der politischen Dichtung in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Geschichte einer Agonie. Alle Todesanzeigen kämen aber entweder zu spät oder zu früh. Sollten sie der sozialistischen Staatskunst im Osten oder der Agitpropkultur des Westens gelten? Den apokalyptischen Kapitalismusvisionen von Volker Braun oder Uwe Tellkamps Träumen von einer konservativen Revolution? Dem, was der abschreckende Begriff Tendenzdichtung bezeichnet, oder einer litterature engagée, die Position gegen einen selbstverliebten Ästhetizismus bezieht? Der Unternehmerfeindschaft des jungen Friedrich Christian Delius, dem aufrechten Sozialdemokratismus des mittleren Grass oder den Links-Rechts-Schlingerbewegungen des späten Hochhuth?

Abschied muss man vor allem von umfassenden Epochendeutungen wie Thomas Manns „Doktor Faustus“ nehmen, jener Höllenfahrt zu den geistesgeschichtlichen Ursprüngen des Nationalsozialismus, die vielleicht kein politischer Roman im engeren Sinn ist, doch bis weit in die achtziger Jahre marxistische Gruppen germanistische Seminare mit gegenläufigen Faschismustheorien sprengen ließ. Auch ein monumentaler Entwurf wie Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, der halb erzählend, halb essayistisch untersucht, wie Kunst, politische Opposition und soziales Gerechtigkeitsbewusstsein zusammenhängen, ist als Chronik der kommunistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so eng mit seinem historischen Stoff verwoben, dass er kaum noch etwas zu taugen scheint.

Fast alle Versuche, das Politische in und an der Literatur explizit wiederzubeleben, haben nicht nur im Schatten von Titanen wie Mann und Weiss etwas rührend Vergebliches. Wer zum Beispiel würde sich noch daran erinnern, dass Norbert Niemann und Georg M. Oswald im Juni 2001 ein damals lebhaft diskutiertes „Akzente“-Heft mit dem programmatischen Titel „Politik“ veröffentlichten? Ihr Pech war nicht nur, im September darauf von einem New Yorker Ereignis überrollt zu werden, das die ganze Weltordnung umstieß.

Die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens lag vielleicht schon in der Genügsamkeit, mit der sie lediglich einen neuen Gesellschaftsroman anstrebten: kritisch, aber nicht radikal, böse, aber nicht unversöhnlich, auf die Moral des Individuums ausgerichtet, nicht auf die Strukturen, die sie hervorbringen. Ein Genre, in dem Georg M. Oswald in diesem Herbst mit dem Roman „Der Geist der Gesetze“ wieder einmal brilliert. Auch die Angestelltenromane der letzten Jahre, eine Literatur der Arbeitswelt aus dem Herzen der Mittelklasse, leben munter fort – gerade etwa mit Anette Pehnts „Mobbing“. Wenn Niemanns und Oswalds Mission dieser Gesellschaftsroman war, dann ist sie auf gewisse Weise geglückt.

Wer der jüngsten deutschen Literatur noch vor kurzem hätte vorwerfen können, am liebsten mit dem Mikroskop den eigenen Bauchnabel zu inspizieren, muss sie inzwischen fast davor warnen, mit dem Fernrohr allzu weit in die Geschichte hinauszuschauen. Unter einem geschichtssatten, den Wonnen der Selbstbespiegelung demonstrativ abschwörenden Jahrhundertpanorama, so ist zu befürchten, macht es bald keiner mehr. Michael Köhlmeiers Roman mit dem unbescheidenen Titel „Abendland“, der soeben in der Endrunde um den Deutschen Buchpreis konkurrierte, ist dafür das beste Beispiel.

Was die Gesellschaft unserer Jahre im Innersten zusammenhält, egal, ob man ihre bindenden (oder zerstörerischen) Kräfte eher an der ökonomischen Basis vermutet oder im höher gelegenen Land des Geistes, davon weiß sie wenig zu berichten. Der politischen Literatur scheint ein Schicksal bevorzustehen, das die religiöse Literatur längst ereilt hat – wenn man nicht Peter Handkes Pantheismus, Arnold Stadlers Hintergrundkatholizismus oder Sibylle Lewitscharoffs Wundertütenspiritualität damit meint. Undenkbar, dass Dostojewskis Gewissenskonflikte noch einmal als Glaubenskämpfe in der Art von Georges Bernanos durchgespielt würden: Nicht von ungefähr sind katholische Großschriftsteller wie Reinhold Schneider praktisch vergessen.

Die Parallele zur Politik liegt im Hautgout des Ideologischen, der beiden Bereichen anhaftet. Man soll heute zwar möglichst an etwas glauben, aber bitte nicht zu sehr. Und sie besteht in einer Koinzidenz, die die viel beschworene Rückkehr der Religionen betrifft. Denn ist diese Rückkehr nicht zunächst ein politisches Faktum? Das westliche Interesse am Islam entzündet sich nicht an Allahs überwältigender Gnade, sondern an den terroristischen Verheerungen, zu denen sich manche durch sie ermächtigt fühlen. Erst in zweiter Linie hat sich daraus eine komparatistische Neugier auf religiöse Traditionen im Allgemeinen entwickelt – und das Bemühen, sie in säkulare Begriffe zu übersetzen. Umgekehrt scheint mit dem Politischen eine Sinndimension abhandengekommen zu sein, die in der Lage wäre, den stumpfen Lauf der Dinge zu transzendieren. So, wie es im Religiösen darum geht, einschlägigen Fanatismus zu zähmen, geht es im Politischen darum, radikale Diagnosen und utopisches Denken in sozial verträgliches Handeln umzuwandeln.

Die Versuchung des Terrors ist dabei politisch besser dokumentiert als religiös: Christoph Peters’ Roman „Ein Zimmer im Haus des Krieges“, der von einem deutschen Islamisten im Ägypten der neunziger Jahre erzählt, ist jedenfalls eine Ausnahme. Die Geschichte der RAF dagegen spiegelt sich von Friedrich Christian Delius’ Trilogie zum Deutschen Herbst über Leander Scholz’ „Rosenfest“ bis zu Christoph Heins „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ in vielen historischen Facetten. Linke Militanz nicht als etwas Vergangenes zu behandeln, sondern sie im Herzen unserer Zeit anzusiedeln, mitten in Berlin, unter den Augen von Überwachungskameras, im konspirativen Mailverkehr und in ihrer ganzen hilflosen Verranntheit – das ist das Privileg von Ulrich Peltzers neuem Roman „Teil der Lösung“. Dass er für diesen Stoff außerdem eine literarisch überzeugende Form gefunden hat, macht dieses Buch zum doppelten Ereignis.

Man kann es, gleichermaßen auf Spannung wie auf Reflexion angelegt, als vielfältig zusammengepuzzelten Thriller lesen oder als Liebesgeschichte zwischen Nele, einer 23-jährigen Studentin, und Christian, einem sich von Journalistenjob zu Journalistenjob durchmogelnden Mittdreißiger. Zwei einander Verfallene, zwei Fremde. Von Neles militanten Aktivitäten, die sie bald zu heimlichen Treffen mit Gesinnungsgenossen aus Berlin fortführen, ahnt Christian nichts. Auch als einen ihr in vielem verwandten politischen Kopf, der darum kämpft, ein Interview mit Veteranen der Roten Brigaden zu bekommen, weiht sie ihn nicht ein.

Das Auftauchen einer militanten Gruppe in Berlin, der ominösen „mg“ als Gegenstand wirklicher polizeilicher Ermittlungen (und erster Haftbefehle) hat Peltzers Erfindung inzwischen eingeholt. Sein Buch lebt aber von literarischen Erkundungen der Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, wie es bei Rolf Dieter Brinkmann einmal hieß – Erkundungen mit eigener Genauigkeit. Zu wessen Nutzen und zu wessen Schaden hier Anschlagspläne ausgesponnen werden, geht unter im Starren auf ein undurchdringliches System, das sich nicht einmal mehr in Symbolfiguren verkörpert. Und das System starrt zurück: Die Sicherheitskräfte durchschauen die Denk- und Bewegungsmuster der jungen Militanten besser als diese selbst. Ein Belauerungszustand, in dem sich beide Seiten ihrer Notwendigkeit versichern.

In diesem Sinn ist „Teil der Lösung“ (Ammann Verlag, Zürich, 456 S., 19,90 €) nur bedingt ein politischer Roman. Er erzählt mehr von subjektiven Ohnmachtsgefühlen als von objektivierbaren Machtverhältnissen. Er beschwört mehr die Sehnsucht eines entwurzelten linken Milieus nach Politik, als dass er Ideen entwickeln würde, was effektives politisches Handeln wäre. In der Beschreibung dieser diffusen Gefühle ist er aber von einer staunenswerten Präzision, die dann doch besser mit einer sich entziehenden Wirklichkeit zusammengeht, als man meinen könnte. Ja, er enthält vielleicht ein Gutteil von dem, wozu ein politischer Roman überhaupt noch in der Lage ist.

Es beginnt im Sony Center am Potsdamer Platz mit einer Provokation. Touristen mit ihren Kameras streifen umher, ein bebrilltes Mädchen tanzt, ein Paar küsst sich, ein Bobtail hält sein Herrchen auf Trab. Ein wimmeliges Durcheinander herrscht, dessen szenische Ordnung nicht allein das Erzählen herstellt, sondern der Fokus der Überwachungskameras. Sie lassen das Geschehen in einem fensterlosen Raum über die Monitore flimmern und zoomen es in jeder beliebigen Größe und Perspektive heran. Ein Stück elektronisch gebrochener Wirklichkeit, in dem den Wachleuten plötzlich ein Clown und drei Ballerinas auffallen, die es darauf angelegt zu haben scheinen, als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Es kostet einige Mühe, die Spaßguerilla vom Platz zu jagen, doch binnen kurzem ist die Kontrolle wieder hergestellt.

Eine winzige Irritation im Gefüge der inneren Sicherheit, die vorwegnimmt, worum es auch in den sich alsbald steigernden Aktionen geht, wenn Nele und ihre Freunde BVG-Kameras in einem U-Bahnhof zerstören: eine als hyperreal empfundene Welt wieder in den Stand der Realität zu versetzen und, notfalls mit Gewalt, unter einem sich schließenden Horizont hindurchzutauchen. Peltzer zeichnet den städtischen Raum als Ansammlung von neuralgischen Zonen: die einen unsichtbar, die anderen waffenstarrend geschützt, doch von dem immer gleichen Rätsel eingehüllt, welche Art von Macht sich hier installiert hat.

Nele, die über Jean Pauls „Titan“ arbeitet, Christian und sein Freund Jakob, der es als Universitätsgermanist zu einem bürgerlichen Beruf und einer Familie gebracht hat: Sie alle, die sich in ihrer Orientierung so stark unterscheiden, sind gebildete, in Pop wie Philosophie beschlagene, ihrer Sprache bewusste Menschen: meilenweit entfernt von einer trüben Antifa-Szene, die auf die Globalisierung immer noch die Worthülsen des Antiimperialismus anwendet.

Ulrich Peltzer, 1956 in Krefeld geboren und seit drei Jahrzehnten in Berlin, kennt das akademische Milieu, über das er schreibt, von Grund auf, und man darf annehmen, dass die Folksängerin Kimya Dawson und die Denker Michel Foucault und Gilles Deleuze auch zu seinen Helden gehören. Er kennt überdies die politischen Verwerfungen zwischen den Generationen bestens: Schon „Alle oder keiner“, sein großer Roman aus dem Jahr 1999, war eine Inspektion der Befindlichkeiten nach 1968. Zur szenisch gleitenden, nouveau-romanhaften Art dieses Romans steht „Teil der Lösung“ aber nicht nur mit seinen harten, beschleunigenden Schnitten in Kontrast. „Teil der Lösung“ stellt jenseits des Lebensgeschichtlichen überdies eine Vielzahl von sich überlagernden Deutungsmustern zur politischen Opposition zur Verfügung – bis hin zur biologistischen Perspektive. „Jede Gesellschaft hat die Feinde, die sie verdient“, heißt es einmal aus der Sicht eines Staatsschützers. „Braucht sie auch, wie der menschliche Körper bestimmte Viren braucht, um das Immunsystem auf Trab zu halten. Als Bedrohung, die sie dazu zwingt, sich täglich auf ihre Wurzeln zu besinnen und nicht nur in existenziellen Gefährdungssituationen.“

Eine Rückkehr des Politischen in die Literatur ist das höchstens auf Umwegen. Auf Umwege aber kommt es an. Denn auch die angestammten Plätze politischer Debatten und ihrer Widerspiegelung in den Medien sind von jener Hyperrealität angekränkelt, von der Peltzer eindrucksvoll erzählt. Was überzeugte Meinung ist und was kalkulierte Inszenierung, wo sich etwas ereignet und mediale Zeugen findet oder durch solche Zeugen erst entsteht – für all das sind Schriftsteller, die sich auf ihr fiktionales Handwerk verstehen, Spezialisten. Mit seinem Roman „Teil der Lösung“ empfiehlt sich Ulrich Peltzer als einer ihrer klügsten.

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