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Verbrecher JAGD: König der Einbrecher

Es sind einfach zu viele Bücher. Rund 20 000 Kriminalromane erscheinen Jahr für Jahr, und die Verlage lassen sich inzwischen einiges einfallen, um überforderte Redakteure und entscheidungsschwache Rezensenten auf einzelne Titel hinzuweisen.

Es sind einfach zu viele Bücher. Rund 20 000 Kriminalromane erscheinen Jahr für Jahr, und die Verlage lassen sich inzwischen einiges einfallen, um überforderte Redakteure und entscheidungsschwache Rezensenten auf einzelne Titel hinzuweisen. Neben den beliebten Aufklebern, die ein Buch zum „Bestseller“ erklären, bevor auch nur ein einziges Exemplar verkauft worden ist, setzten die Marketingexperten der Verlagshäuser in letzter Zeit vor allem auf möglichst aufwändig gestaltete Verpackungen. Leseexemplare werden heute nicht mehr im grauen Pappumschlag versandt, sondern in überdimensionierten Kartons, deren matt schimmernde Außenseite mit täuschend echten Blutspritzern verziert ist, während sich das Buch selbst im samtschwarz ausgeschlagenen Inneren dieser Schmuckschachtel als wertvolles Juwel präsentiert.

Es steht zu befürchten, dass auch dieses eindrucksvolle Werbemittel bald seine Reizwirkung verliert, und so werden schon bald vermutlich ambitionierte Praktikantinnen in der PR-Abteilung von Random House angehalten, sich eine Stichwunde schminken zu lassen, um die neuesten Serienkiller-Titel persönlich in die Literaturredaktionen zu tragen und dort mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu sinken. Bis dahin wollen wir uns die Zeit mit einem Kriminalroman vertreiben, der aus der Masse der Neuerscheinungen herausragt, weil er kein bisschen neu ist, sondern bereits vor hundert Jahren erstmals veröffentlicht wurde: „Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich“ (Aus dem Französischen von Erika Gebühr. Matthes & Seitz, Berlin 2008, 271 Seiten, 18,80 €.).

Mit Arsène Lupin hatte der französische Schriftsteller Maurice Leblanc zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Figur des „gentleman cambrioleur“ geschaffen, des gebildeten und mit besten Manieren ausgestatteten Meisterdiebs. In dem vorliegenden Roman, dem zweiten Band einer inoffiziellen Werkausgabe des Verlags Matthes & Seitz, trifft Lupin nun auf einen ernstzunehmenden Gegner. Damit ist nicht der englische Privatdetektiv „Herlock Sholmes“ gemeint, den Maurice Leblanc zum Ärger seines Kollegen Arthur Conan Doyle immer wieder als amüsante Nebenfigur auftauchen ließ, sondern ein junger Mann namens Isidore Beautrelet, der genau wie Arsène Lupin unter dem „Zeitalter der Mittelmäßigkeit“ leidet – und nach einem spektakulären Einbruch in einem Schloss in der französischen Provinz aus reinem Ennui mit der Jagd auf den Verbrecher beginnt.

Er wolle sich einfach nur ein wenig amüsieren, erklärt er dem verblüfften Untersuchungsrichter, bevor er sich mit falschem Bart auf die Spuren Arsène Lupins macht. Damit beginnt ein rasantes Fin-de-siècle-Abenteuer, mit mondbeschienenen Klosterruinen, verschlüsselten Botschaften auf altem Pergament und einem frivolen Spiel mit der französischen Geschichte: Es stellt sich heraus, dass sich der vom Erfolg seiner Verbrechen verwöhnte Lupin als „König der Einbrecher“ in einer Reihe mit den Herrschern von Herzog Rollon bis Kaiser Napoleon III. sieht, die seit dem frühen Mittelalter das Volk beraubt haben.

Davon abgesehen war dieser Kriminalroman im Jahr seiner Erstveröffentlichung „brandaktuell“, wie man es heute öffentlichkeitswirksam formulieren würde. 1909 wartete man in ganz Europa auf den Ausbruch eines neuen Krieges, und in diesem Roman hat er nicht nur auf der Ebene der Metaphern bereits begonnen: Arsène Lupin und sein Gegenspieler träumen während ihres Zweikampfs jeder für sich von der „Kapitulation“ und der „Vernichtung“ des Feinds – und darüber hinaus endet ihre Auseinandersetzung in einer unterirdischen Zitadelle, die laut Lupin in naher Zukunft eine „strategische“ Bedeutung für das französische Militär bekommen könnte.

Er behielt recht. Die erste deutsche Übersetzung des Abenteuers erschien 1914. In diesem Jahr begann der Erste Weltkrieg, und jetzt kamen auf den Schlachtfeldern an der Marne und in der Champagne auch „Torpedoboote“ und „kürzlich erfundene Geschosse“ zum Einsatz, von denen Arsène Lupin am Ende des Roman so begeistert spricht, als habe er sie persönlich aus der Schatzkammer des Teufels entwendet.

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