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Verbrecher JAGD: Stalins Schatten

Kolja Mensing besucht Moskauer Kellerverliese

In der sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Kriminalität. Zumindest nicht offiziell. Als im Winter des Jahres 1953 an einem Bahndamm in Moskau die zerstückelte Leiche eines Jungen gefunden wird, kann es sich also nur um einen tragischen Unfall handeln. Doch die Eltern behaupten, das Kind sei ermordet worden. Der Staatssicherheitsdienst schaltet sich ein, und MGB-Offizier Leo Demidow soll mit gezielten Drohungen sämtliche Zweifel aus der Welt schaffen. Nach der Befragung einer Zeugin glaubt er selbst nicht mehr an einen Unfall, aber zu einer Untersuchung kommt es trotzdem nicht. Befehl ist Befehl.

Ein Tschekist muss „sein Herz zur Grausamkeit erziehen“, dieses Motto hatte Felix Dserschinski ausgegeben, der legendäre Chef der russischen Geheimpolizei. Der britische Autor Tom Rob Smith nimmt ihn mit seinem über weite Strecken ausgesprochen brutalen Thriller „Kind 44“ beim Wort. (Aus dem Englischen von Armin Gontermann. DuMont, Köln 2008, 507 Seiten, 19,90 €.) Leo Demidow ist der Jack Bauer des Stalinismus. Er foltert Gefangene in den Verliesen der Lubjanka, treibt Verdächtige in den Selbstmord und „hätte sogar die Gulags in der arktischen Tundra kommandiert“.

Demidow ist also erst einmal keine Romanfigur, mit der man sich gerne identifizieren würde. Nach und nach fügt Tom Rob Smith sich allerdings den Regeln des Genres und lässt den Offizier zuletzt doch noch das Richtige tun. Nachdem Demidow auf einen Polizeiposten in der Provinz abgeschoben wird und dort einen weiteren Mord vertuschen soll, beginnt er auf eigene Faust mit Ermittlungen. Der Staatsterrorist wird zum Staatsfeind Nummer eins. Auf der Flucht vor seinen ehemaligen Kollegen nimmt er die Fährte eines Serienmörders auf. Die Jagd endet in einem eindrucksvollen Showdown: Demidow, der im Auftrag Stalins zahllose Menschen umgebracht hat, trifft auf einen psychisch gestörten Massenmörder.

Richtig interessant wird „Kind 44“ allerdings erst mit Blick auf die aktuelle Situation in Russland. Umfragen zufolge sieht die Hälfe der Bevölkerung in Stalin nämlich keineswegs einen Verbrecher, sondern den Vertreter einer glücklichen und stabilen Epoche der Zeitgeschichte. An diesem Punkt setzt Martin Cruz Smith mit „Stalins Geist“ an, seinem sechsten und bisher vielleicht besten Roman um den russischen Polizisten Arkadi Renko. (Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt. C. Bertelsmann, München 2007, 364 Seiten, 19,95 €.)

Stalin ist seit über 50 Jahren tot, doch in Moskau breitet sich das Gerücht aus, er sei mehrfach in der Metro gesehen worden. Massenhypnose oder PR-Aktion? Martin Cruz Smith, der unter den westlichen Autoren zu den besten Kennern Russlands gehört, benutzt die Farce um den Wiedergänger als Einstieg in einen beunruhigenden Politthriller aus dem Russland der Gegenwart. Spekulanten verwüsten den Wohnungsmarkt, Obdachlose schneiden sich für eine Flasche die Kehle durch, Polizisten lassen sich für Mordaufträge bezahlen: Kein Wunder, dass die Partei der „Russischen Patrioten“ auf Stalin-Nostalgie setzt und Spitzenkandidat und Ex-Elitesoldat Nikolai Isakow seine Pressekonferenzen am liebsten auf den Schlachtfeldern des „Großen Vaterländischen Krieges“ abhält.

Während der melancholische Arkadi Renko sich mit dem vermeintlichen Gespenst beschäftigt, stößt er auf Hinweise, dass Nikolai Isakow für ein Massaker in Tschetschenien verantwortlich ist – und seine ehemaligen Kameraden kurz davorstehen, den Krieg aus dem Kaukasus zurück in die Straßen von Moskau zu tragen. Renko gerät ins Visier der Elitesoldaten, doch das ist nur der Anfang eines langen selbstzerstörerischen Prozesses. Zuletzt führen die Ermittlungen weit zurück in die eigene Geschichte. Stalins Geist, das ist der Geist seines Vaters, eines „talentierter Schlächters“, der sich im afghanischen Bürgerkrieg als Befehlshaber der Roten Armee mit Gräueltaten hervorgetan hat. Seine Karriere hat Renkos Vater im Übrigen während des Zweiten Weltkriegs unter Stalin begonnen, ja, die beiden sollen sich sogar gekannt haben. „Waren sie Freunde?“, wird Renko einmal gefragt. „Schwer zu sagen“, antwortet er. „Stalin hat die meisten seiner Freunde erschießen lassen.“

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