zum Hauptinhalt
Ein deutscher Panzer bei der Ardennenoffensive Ende 1944. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

"Kontrafaktische" Geschichtsbetrachtung: Wie wäre der Zweite Weltkrieg verlaufen, wenn

Andrew Roberts und Ralf Georg Reuth beschreiben den Verlauf des Krieges - Roberts etwas mehr.

Britische Historiker und wohl auch ihre Leser lieben hypothetische Erwägungen. Besonders hinsichtlich des Zweiten Weltkriegs, in dem zuallererst das existenzielle Ringen der britischen Demokratie mit der deutschen Diktatur ausgefochten wurde, sprichwörtlich geworden in Churchills finest hour. Was wäre gewesen, wenn Hitler und General Rundstedt vor Dünkirchen die Panzer nicht hätten halten lassen, sondern sie mit aller Wucht in die flüchtenden Briten gelenkt hätten? Was, wenn die Japaner in Pearl Harbour auch die Treibstofflager und Reparaturwerften zerbombt hätten? Was, wenn Hitler die Wehrmacht in voller Stärke bis zum Suezkanal hätte marschieren lassen, statt sie im russischen Winter erfrieren zu lassen?

Auch Hannibal hätte, wenn...

Solche „kontrafaktischen“ Überlegungen, wie sie doch zum Kerngeschäft des Historikers gehören (müssten), um zu verstehen, was sonst dem Dunkel bloßer Willkür zugeschrieben würde, sind unter deutschen Kollegen und vor allem Kritikern verpönt. Als ob es nicht seine Berechtigung hätte, zu fragen, wie die Weltgeschichte möglicherweise verlaufen wäre, wäre Hannibal nach Cannae tatsächlich bis ante portas vorgedrungen, statt im Süden Italiens zu verharren! Hannibal, nun gut; aber Hitler darf als Feldherr nicht anders als durch die Brille vollständiger Verdammung gesehen werden. Das ist, wenn man die Summe aus der Betrachtung des Weltkriegs zieht, zwar richtig – aber bitte ex post und nicht als Prämisse.

Ja, Hitler und seine kriecherischen Generäle Keitel, Jodl & Co. mussten den Krieg verlieren, weil sie eben keinen herkömmlichen Krieg führten, wie ihn britische Militärhistoriker gemeinhin voller Detailfreude erzählen, sondern einen völkermordenden Vernichtungskrieg, der Alternativen im Kriegsverlauf, insbesondere einen Rückzug, von vorneherein ausschloss.

Nur kein Rückzug

Dies bedenkend, liest man das Buch von Andrew Roberts, „Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs“, mit Gewinn. Eben weil Roberts einer jener Militärhistoriker ist, wie sie die deutsche Fachdisziplin in ihrer Selbstbeschränkung kaum noch hervorbringt, es sei denn, sie finden Unterschlupf im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, das mit seiner zehnbändigen Publikation „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ zwischen 1978 und 2008 eine bis heute weithin anerkannte Gesamtdarstellung vorgelegt hat, mit der sich kürzere Darstellungen naturgemäß nicht messen können.

Roberts’ Buch ist bereits ein gutes Jahrzehnt alt, was seiner Darstellung keinen Abbruch tut. Es ist denn doch so ziemlich alles schon erforscht, und Roberts erhebt gar nicht den Anspruch, grundstürzend neue Erkenntnisse gewonnen zu haben. Für deutsche Leser ist der tatsächlich die ganze Welt einbeziehende Rundblick allemal ein Gewinn, was gängige Fehlurteile wie das über den zu späten Beginn der alliierten Landung in Frankreich korrigieren hilft. Deutscherseits wird beispielsweise gern vergessen, dass die USA im Pazifik einen mindestens so entschlossenen Gegner wie Hitlers Wehrmacht niederzuringen hatten, ehe sie die von Stalin geforderte „Zweite Front“ mit der Landung in der Normandie eröffnen konnten.

Das Scheitern der Achsenmächte

Vor allem aber, und das macht Roberts’ Buch spannend, stellt er immerzu die Was-wäre-wenn-Frage, er sucht die Gründe für das Geschehen, zum Schluss der knapp 800 Textseiten die Antwort auf die Frage, warum die Achsenmächte den Krieg verloren: „Der wahre Grund dafür, warum Hitler den Zweiten Weltkrieg verlor, war genau derjenige, der ihn den Krieg überhaupt erst entfesseln ließ: Er war ein Nazi.“ Das mag deutschen Kritikern zu dünn sein, aber sie übersehen dabei, dass die Antwort auf die Frage, was Hitler zum Nazi machte, in ganzen Bibliotheken historischer Literatur bereits beantwortet ist und von Roberts kein weiteres Mal dargelegt werden musste.

Noch knapper als Roberts und ohne dessen Gedankenspiele hat Ralf Georg Reuth, eine der rühmlichen Ausnahmen als deutscher Militärhistoriker, seine „Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ verfasst. Ihr Vorzug ist es, deutlicher als Roberts den Unterschied des Zweiten zum Ersten Weltkrieg herauszuarbeiten, der oftmals als dessen Fortsetzung oder Wiederaufnahme angesehen worden ist – ein Fehlschluss, den die Rede vom „Dreißigjährigen Bürgerkrieg“ befördert hat.

Hitler - die Ausnahme der Geschichte

Reuth zeigt, wie stark der ideologische Charakter des Zweiten Weltkriegs war, besonders, aber nicht nur aufseiten von Nazi-Deutschland. „Hitler“, schreibt er sozusagen kopfschüttelnd, „war in gewisser Hinsicht aus der Zeit gefallen.“ Sein Judenhass „war etwas, das es so noch nie gegeben hatte“. Reuth unternimmt es, „die Strategie Hitlers als Widerpart jeglicher rationalen Politik und Kriegführung“ herauszuarbeiten. Daher rührt die anfängliche Fehleinschätzung Hitlers im Westen wie im Osten – gipfelnd in Stalins Weigerung, den Aufmarsch der Wehrmacht an der sowjetischen Westgrenze für etwas anderes als Bluff zu halten.

Kein Widerstand, nirgends

Dass das deutsche Militär ohne nennenswerte Ausnahme – der 20. Juli fand erst 1944 statt! – bereit war, den Krieg um eben dieses Völkermords willen und in aller dafür notwendigen, verbrecherischen Form zu führen, gestützt auf ein deutsches Volk, das von nichts etwas wissen wollte und dennoch bald sehr vieles erfuhr – das ist es, was diesen Krieg für deutsche Autoren so schwer zu beschreiben macht. Und jeden Gedanken an Alternativen auch da verhindert, wo sie im Verlauf des Krieges möglich waren – es sei denn, man wollte des „GröFaZ“zunehmend aberwitzige Befehle für den einzig denkbaren Gang der Ereignisse halten.

Was wäre übrigens gewesen, hätten die USA der Sowjetunion nicht über den Lend-Lease Act Hunderttausende von Fahrzeugen geliefert, die überhaupt erst den Nachschub für die in Millionenstärke vorrückende Rote Armee ermöglichten? Diese „kontrafaktische“ Erörterung versagt sich selbst Roberts. Man schaudert in der Tat, wagt man sie zu Ende zu denken.

Andrew Roberts: Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München 2019. 896 S., 52 Abb. u. 22 Karten, 39,95 €. - Ralf Georg Reuth: Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Rowohlt Berlin, Berlin 2018. 416 S., 22 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false