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Wolfdietrich Schnurre: Hoffnung auf Blaubeeren

Die Deutschen und ihre Nachkriegsliteratur: Wilhelm Genazino schreibt eine Erinnerung an Wolfdietrich Schnurre.

Wolfdietrich Schnurre hätte das werden können, was wir einen Naturdichter nennen. Obwohl er 1920 in Frankfurt am Main geboren wurde und die ersten acht Jahre seines Lebens in Frankfurt verbrachte, galt seine Aufmerksamkeit von früher Kindheit an dem Leben der Pflanzen und Tiere, den Träumereien in nie ganz dunklen Kinderzimmern, den Stimmungen verschwindender Sommerabende. Bei ihm klingt das so: „Der Stengel der Sonnenblume verdorrt jetzt, das Blau des Himmels schmerzt von Tag zu Tag mehr; schon lösen sich die Segler im All auf, und die Holunderbeere glänzt; nachts rufen auch wieder die Kraniche.“

Aber es kam anders. Schnurre war in eine Zeit hineingeboren worden, in der Naturgedichte zwar geschrieben, aber kaum verlangt wurden. Im Jahr 1939 war Schnurre 19 Jahre alt, und genau das war sein Pech – wenn man das, was dann folgte, so harmlos umschreiben darf. Die jetzt folgende Lebensphase wurde gegen seinen Willen wahrscheinlich die wichtigste – im Sinne von: die folgenreichste, bitterste, unverdaulichste.

In den Kurzbiografien der Lyrikbände, die Schnurre in der Nachkriegszeit veröffentlichte, kehrt oft eine Zeile wieder, die von Schnurre selbst stammt: „Sechseinhalb sinnlose Jahre Soldat“. Tatsächlich war der 19-jährige Schnurre pünktlich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Nazis eingezogen und auf deren Schlachtfelder geschickt worden – bis zum Ende 1945. Schon kurz nach der Heimkehr, mit den ersten freien Atemzügen, entschloss er sich zu schreiben. Seine Neigung zur Naturbeobachtung, und das heißt bei ihm immer auch: der Versuch der Anschmiegung des Ichs an die konfliktmildernde Natur, war ihm in den „sechseinhalb sinnlosen Jahren Soldat“ immer mal wieder abhanden gekommen.

Nach dem Krieg war eine neue Welt entstanden: aus Schutt, Asche und Ruinen. Die Texte, die vor diesem Hintergrund entstanden, wurden Kahlschlag-Literatur genannt. Es gibt ein achtstrophiges Gedicht, in dem Schnurre die (vermutlich) dramatischsten Übergänge seines Lebens in einfachen, eindringlichen Formulierungen erinnerbar machte. Das Gedicht heißt „Lied“; die zweite und die dritte Strophe gehen so: „Ich begehre zu wissen, / wo es Blaubeeren gibt / und nicht: gibt es Krieg. / Ich begehre zu wissen, / wann Regen fällt / und nicht: in wie viel / Teile zerfällt ein Gewehr.“

Wer genau hinhört, wird schnell merken, dass diese Strophen zwei Zäsuren gleichzeitig fixieren; einmal spricht der Soldat Schnurre, der wissen will, wo es Blaubeeren gibt; zum zweiten spricht der Nachkriegsdichter Schnurre, der die unaufhörliche Wiederkehr kaum zu überwindender Schrecken zu bannen versucht – und doch nur erfährt, dass er auch nach dem Krieg in zwei Zeiten zugleich lebt, im Krieg und im Nichtkrieg, im Kampf und in dessen innerer Simulation, im wirklichen Grauen und in der versuchten Flucht vor diesem. Es hat in Deutschland nie wieder eine Zeit gegeben, in der die Schriftsteller so rückhaltlos ernst genommen wurden wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sagen wir: zwischen 1947 und 1957.

Es ist kein Zufall, dass sich zu Beginn dieser Phase die Gruppe 47 bildete, und es ist außerdem kein Zufall, dass Schnurre zu ihren Gründern gehörte. Er wollte, wie er einmal bekannte, l''art pour l''homme machen, nicht l''art pour l''art. Genauer kann man den Geist dieser Literatur nicht ausdrücken. Wenn die „sechseinhalb sinnlosen Jahre Soldat“ vielleicht doch einen Sinn hatten, dann lag er in der Belehrung durch die Trümmer.

Der durch Krieg und Zerstörung schlau gewordene Moralist war der seinerzeit verbreiteste Typ des Intellektuellen, von denen Wolfdietrich Schnurre nicht einmal der bekannteste war. Auf älteren Fotos der Gruppe 47 sehen wir neben Schnurre Heinrich Böll, Ernst Schnabel, Günter Eich, Ilse Aichinger, und die Jungen von damals, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Dieter Wellershoff.

Über viele Jahre hin schrieb Wolfdietrich Schnurre nebeneinander Gedichte und Erzählungen. Obwohl ihm (vermutlich) das Gedicht näher war, wurde er mit erzählender Prosa bekannt. Einmal hat er versucht, die beiden Genres – Lyrik und Prosa – gegeneinander abzugrenzen und ihre typischen Merkmale herauszuarbeiten. In diesem Versuch lesen wir: „Was will ein Gedicht. Teilnahme erwecken. Das Gedicht braucht den Partner, den Erkenner, den Deuter. Es wirbt. Es zielt. Es ist, so gesehen, der Hoffnungsträger per se. Auch, wenn es die Hoffnungslosigkeit meint. Auch, wenn es sich aus tiefster Verzweiflung erhebt. Dann erst recht. Prosa ist monoman. Sie lässt absinken, sie trägt nicht. Denn sie hat keinen Verwandlungsanspruch. Sie findet im eigenen Gemurmel Genüge. Sie braucht den Entzauberer nicht. Sie schläft, wenn sie spricht. Sie hat sich an sich gewöhnt. Das Gedicht bleibt sich fremd. Es blickt sich um nach Antennen. Es wir auf ihm unbekannten Frequenzen gesendet. Nichts hat es so nötig, wie aufgenommen, enttarnt und verwandelt zu werden. Das Gedicht meint das Du, die Prosa meint sich.“

Was an diesen Zeilen auffällt, ist eine moralische Selbstqualifizierung der Literatur, wie sie in dieser Souveränität in späteren Jahren immer seltener gewagt wurde. Dazu passend ist die Überzeugtheit von der Wirkungsmacht Literatur, die sich im Fortgang der Nachkriegsgeschichte ebenfalls immer mehr auflöste. Trotz seines künstlerischen Misstrauens gegen die Prosa entwickelte sich Schnurre zu einem effektvollen Verfasser von Kurzgeschichten und Hörspielen.

Das Gedicht als Genre trat mehr und mehr zurück, sicher auch deswegen, weil Schnurre im Gedicht den Anforderungen der Zeit (und des Zeitgeistes) nicht so zielsicher nachkommen konnte wie in der Prosa. Gegen die Nazijahre schrieb Wolfdietrich Schnurre so heftig an, als könne man diese Zeit durch moralische Schärfe nachträglich ungeschehen machen. Dieser Affekt traf vermutlich das Empfinden vieler Deutscher, die sich – verspätet – ein wenig Luft von dem drückenden Schuldproblem verschafften.

Typisch für diese Konstellation ist eine um 1960 geschriebene Erzählung mit dem Titel „Ein Versäumnis“. Einziger Protagonist ist ein sozialistischer, von den Nazis kaltgestellter Arbeiter. Er beschafft sich eine Pistole und will sich umbringen. Doch dann gerät er in eine Menschenansammlung und erkennt plötzlich – Hitler. Der Arbeiter sieht die Möglichkeit zu einem Attentat, mit dem er Weltgeschichte schreiben und zugleich den in der Luft liegenden Tod von Millionen Menschen vereiteln könnte. Aber dann tritt eine Wende ein. Der Arbeiter hat doch nicht das Zeug zu einem Sensationsdarsteller der Geschichte; er lässt die Pistole fallen und wendet sich tatenlos ab.

In dieser Peripetie zeigt Schnurre sein Können als geschickter Arrangeur, der den drastisch-realistischen Effekt zwar anstrebt, diesen dann aber wieder zu Fall bringt und erst dadurch die besondere Fatalität der Zeit zeigt, von der er erzählt. Die Autonomie der Moral stiftet gleichzeitig die Autonomie des Textes. Durch die deutlich erkennbare Sozialbindung der Literatur erübrigten sich für Schnurre Fragen der ästhetischen Progression der Literatur. In dieser Konstellation entfaltete sich über viele Jahre hin die deutsche Nachkriegsliteratur. Wolfdietrich Schnurre war einer ihrer prägenden Darsteller.

Wilhelm Genazino

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