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Zeit SCHRIFTEN: Goethes Werther (Dance Version)

Wie ließe sich Thomas Manns Ironie herunter regeln? Gregor Dotzauer über den Traum vom Remix literarischer Texte.

Von Gregor Dotzauer

Zum höchsten Glück des literarischen Lesens gehört das Gefühl, einen Text vor sich zu haben, der kein Wort zu viel und kein Wort zu wenig enthält. So und nicht anders will ich sein – darin besteht sein Anspruch auf Vollkommenheit. Wie jedes Kunstwerk, das auf der inneren Notwendigkeit seiner äußeren Gestalt beharrt, beruht seine Wirkung aber auch darauf, dass diese Gestalt sehr wohl anders sein könnte. Ja gibt einem die Idee von Vollkommenheit nicht erst die Tatsache ein, dass fast jeder Text stellenweise redundant, unklar oder holprig, also unvollkommen ist?

Der amerikanische Germanist Michel Chaouli, zurzeit Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg, beschreibt im Juniheft des „Merkur“ eine typische Erfahrung, wenn er sich für Rohinton Mistrys Roman „Das Gleichgewicht der Welt“ begeistert, zugleich aber den Hang des Kanadiers zu adverbialer Überfülle beklagt: „Die Figuren sagen nicht nur einfach etwas, sie sagen es ,lachend‘ oder gar ,mit einer beschwichtigenden, kreisenden Kopfbewegung lachend‘.“ Chaouli fragt in „Remix: Literatur – Ein Gedankenexperiment“ (vollständig unter online-merkur.de) nun aber nicht: Lektor, wo warst du? Er imaginiert einen Computer, der solche Störfaktoren einfach ausblendet.

So, wie man bei einer Stereoanlage Bässe und Höhen reguliert, stellt er sich vor, einen Adverbienregulator zu haben, einen Beschreibungsraffer oder einen Filter für abgedroschene Metaphern. Welche Zukunft, glaubt er, hätte das E-Book, wenn es gelänge, die Literatur aus dem Reich des unveränderlich Gedruckten zu befreien, statt die Eigenschaften des klassischen Buches nachzubilden. Chaouli hat nicht Hypertexte im Sinn, deren Ödnis er schon in seinem Essay „Kommunikation und Fiktion“ (michel.chaouli.googlepages.com) einleuchtend begründet hat – er träumt von der mechanischen Formbarkeit literarischer Personalstile. Warum auch nicht? Wenn Sprache Regeln und Verteilungsprinzipien gehorcht, lässt sie sich auch regelhaft manipulieren.

Chaoulis „Remix“-Essay nimmt ein Lieblingsthema der postrukturalistischen Literaturtheorie, die Frage nach der Abgeschlossenheit literarischer Texte, unter technischen Aspekten wieder auf. Das ist ungewöhnlich anregend, doch gleich auf mehreren Ebenen schief und schlampig argumentiert. Die digitale Utopie kommt schon da nicht übers Gedankenexperiment hinaus, wo Chaouli das Verstehen von Texten, ihren hermeneutischen Horizont, für überflüssig erklärt. Was aber würde es für einen Programmierer ohne Kenntnis eines bestimmten Textes bedeuten, bei Thomas Mann den Ironieregler niedriger zu stellen? Was, König Ödipus bei Sophokles weniger schrill klagen zu lassen? Sicher ist auch, dass ein einheitlicher Beschreibungsraffer bei Stifter destruktivere Folgen hätte als bei Charles Dickens.

Fataler ist, dass Chaouli das Schriftliche von Literatur mit dem Klanglichen von Musik in eins setzt – und von der Bedeutung des Remix in der Popmusik keinen Schimmer zu haben scheint. „So wie ein Musikliebhaber daran interessiert ist, sich fünf verschiedene Einspielungen von Beethovens Streichquartetten anzuhören“, schreibt er, „wäre ich gespannt auf fünf Remixe von ,Die Leiden des jungen Werthers‘.“ Absurder geht’s nicht: Zwischen zwei Beethoven-Aufnahmen mögen Welten liegen, der Notentext aber bleibt sakrosankt. Muss man Chaouli tatsächlich sagen, dass eine Einspielung etwas anderes ist als eine Komposition? Und Pop etwas anderes als Klassik?

Die Parameter, die es beim Remix von Literatur zu verändern gälte, lassen sich ohnehin nicht über mathematisch fixierbare Eigenschaften wie Tonhöhe und Tonlänge definieren. Man sollte deshalb weniger von Remixes als von Remakes sprechen – in der Hoffnung auf Sinn und Verstand. Die Chancen, dass Michel Chaoulis Visionen wahr werden, stehen jedenfalls schlecht. Oder glaubt irgend jemand, dass man seinen Essay eines Tages maschinell reparieren könnte?

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