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Zeit SCHRIFTEN: Mönche, Dichter, Silbenstecher

Gregor Dotzauer über das Haiku, Gary Snyder und Roland Barthes

Von Gregor Dotzauer

Für einen Volkssport ist das Dichten von Haikus eine mühevolle Angelegenheit. Selbst in Japan, wo die Kunst der siebzehn Moren (oder Silben) seit gut 400 Jahren blüht und in Matsuo Basho, dem Zenmönch, einen frühen Vollender fand, fallen ihre Meister nicht vom Himmel. Die erforderliche Mischung von augenblicklicher Empfindung und bezwungener Form ist eine paradoxe Disziplin. Deshalb verwundert es umso mehr, dass sie zur Ertüchtigung der poetischen Einbildungskraft inzwischen weltweit wettbewerbsmäßig betrieben wird und auch in Deutschland die Züge einer Massenbewegung angenommen hat.

Im Internet, das diese Gruppenbildung nach Kräften befördert hat, wimmelt es von Websites, die der Praxis, Theorie und Geschichte des Haiku gewidmet sind. Und wie sehr einige Hervorbringungen seinen Geist auch verfehlen mögen, weil sie die üblichen Regeln allzu strikt befolgen, nach denen sich die drei Verse in fünf, sieben und wieder fünf Silben aufteilen, ein Jahreszeitenwort (kigo) und ein Zäsurwort (kireji) enthalten, oder weil sie diese allzu beherzt über den Haufen werfen: Die Debatten, in denen sich die Kennerschaft von Standards und möglichen Abweichungen austobt, zeugt von einem staunenswerten Maß an Selbstreflexion. Wie viel Frechheit dem kontemplativen Haiku zugemutet werden darf oder wie sehr seine an Konkretes gebundene Gestalt Metaphern und Gedanken erträgt, ist eine Wissenschaft für sich.

Allein mit den gesammelten Aufsätzen der Deutschen Haiku-Gesellschaft (culturebase.org/home/haiku-dhg/) kann man Tage verbringen, um etwa auf haiku-heute.de festzustellen, dass auch unter den angeblich gelungensten Haikus in deutscher Sprache sehr zweifelhafte Kandidaten sind. Da steht das ansehnliche „Wolken am Hügel – / der Hund des Schäfers treibt sie / höher und höher“ neben dem hart an der Grenze zum Sozialkitsch changierenden „im drehkreuz / zur vollzugsanstalt / eine sonnenblume“. Was einem sofort die Mahnung des buddhistischen Öko-Anarchisten Gary Snyder in Erinnerung ruft, der in einem Interview auf Udo Wenzels haiku-steg.de sagt: „Ich glaube nicht, dass wir das Haiku in anderen Sprachen und Kulturen überhaupt denken sollten. Um Haiku in anderen Sprachen zu erreichen, muss man das Herz des Haiku erreichen, das hat zu tun mit Zen-Praxis und geübter Beobachtung.“

Das betrifft schon die Übertragung der Klassiker, die der Japanologe Robert Wittkamp (robertwittkamp.eu) ebenso klug wie böse untersucht: Wie manche Übersetzer mit Füllwörtern arbeiten, nur um auf ihre 17 Silben zu kommen, ist purer Dilettantismus. Man braucht tatsächlich etwas von Gary Snyders Freiheits- und Genauigkeitssinn, wie er sich in seiner Preisrede zum Masaoko Shiki Haiku Award 2004 (auf Haiku-Steg) ausdrückt, um dieser alles Verblasene scheuenden Spiritualität nahezukommen.

Als Europäer, der wusste, dass er „das Andere“ trotzdem nie würde umarmen können, ist ihr wohl niemand gerechter geworden als der Zeichentheoretiker Roland Barthes. Seine letzten Vorlesungen, die er unter dem Titel „Die Vorbereitung des Romans“ am Collège de France hielt, bevor er 1980 ums Leben kam, sind, übersetzt von Horst Brühmann, in der Edition Suhrkamp gerade zum ersten Mal auf Deutsch erschienen (570 S., 18 €). An Gedankenreichtum übertreffen sie noch die beiden Vorgängerbände „Wie zusammen leben“ und „Das Neutrum“, die ebenfalls schon von zenbuddhistischem und taoistischem Gedankengut lebten. Anders als diese sind sie nur leider nicht als Tondokumente unter ubu.com nachzuhören.

Allein 100 Seiten gelten dem Geheimnis des Haiku, das er zum „höchsten Gut“ des Schreibens erklärt. Zugleich träumt er davon, einen Roman zu verfassen und alles Akademische hinter sich zu lassen. Eine in jeder Hinsicht paradoxe Sehnsucht, die er zu bannen hofft, indem er die Paradoxien seines Gegenstands untersucht. „Am Haiku ist etwas, das die Idee der Urheberschaft erschüttert: Das Haiku ist das Subjekt selbst, eine Quintessenz von Subjektivität, aber nicht unbedingt der des Autors.“ Masaoko Shiki hat also vielleicht ein Lieblingshaiku von Barthes geschrieben: „Mit einem Stier an Bord / Überquert das Boot den Fluss / Im Abendregen“. Aber stammt es auch von ihm?

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