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Zeit SCHRIFTEN: Walrösser und andere Proleten

Gregor Dotzauer über den Traum des „Merkur“ von bürgerlicher Dekadenz

Von Gregor Dotzauer

Betrachten wir ihn einen Moment lang als Übertreibungskünstler. Wenn Gustav Seibt recht hat, ist Karl Heinz Bohrer, der große Literaturwissenschaftler und Herausgeber des „Merkur“, in seinen zeitkritischen Einlassungen ein „politischer Karikaturist“. Karikaturisten sind bekanntlich Übertreibungskünstler, und so, wie ihn Seibt in seiner Laudatio zum Heinrich-Mann-Preis porträtiert (Sinn und Form 2007/4), hat man gar keine andere Wahl, als Bohrers „Pandämonium“ in einer Linie mit Charles Baudelaires Spott über Belgien und Heinrich Manns Gesellschaftsdiagnosen zu lesen: „Was sie ausstellen und worauf ihre teils grässliche, teils komische Wirkung beruht, ist die überall sich aufdrängende Körperlichkeit, die Hässlichkeit unzivilisierter, durch Form nicht gebändigte Physis, die den Menschen inmitten seiner modernen Umwelt als entgleisendes Naturwesen zeigt.“

Die fünf kleinen Bilder, „nicht erfunden“ und „dennoch parabolisch“, die Bohrer im Eröffnungsessay des diesjährigen „Merkur“-Sonderhefts „Kein Wille zur Macht. Dekadenz“ (19 €, www.online-merkur.de) zeichnet, fügen sich da ein und nähren doch den Verdacht, dass ihr Autor seinen Ekel genauso empfindet, wie er ihn beschreibt, ja dass er ihn untertreibend noch im Zaum zu halten versucht.

Die „junge Frau von walrossartiger Dimension, umgeben von ihrer Nachkommenschaft, drei Jungwalrössern wahrscheinlich unterschiedlichen Geschlechts“. Die „unglückliche Person im Nachmittagsfernsehen“. Oder der „Mann in einer Art Schlafanzug in einer kleinen ostdeutschen Stadt“: Sie bevölkern Bohrers Deutschland mit der ganzen Impertinenz ihrer alles Bürgerliche aufsaugenden Unterschichtsverlotterung und illustrieren seine hier nicht zum ersten Mal diagnostizierte „Inversion von Politischem und Privatem“: „Es gibt keine private Miserabilität, keine private Obszönität, keine private Hässlichkeit, die qua Massenmedien nicht zum Stand des öffentlichen Bewusstseins gemacht würde und dort einschlägig normative Wirkung zeitigt."

Was immer an Bohrers Beobachtungen zutreffen mag – sie finden ihre Grenze im rein ästhetischen Zugriff auf alles Politische, der ihn auch schon von einer „Ästhetik des Staates“ hat träumen lassen. Und sie sind in ihrer naserümpfenden Kulturkritik der schärfste Widerspruch zum Versuch, den Begriff der Dekadenz gegenüber dem des reinen Verfalls analytisch zu adeln, was anderen Beiträgen, etwa Karsten Fischers Essay über „Dekadenz als Exportschlager“ durchaus gelingt. Doch ach: „Dekadenz“, heißt es im Editorial, „ist von Hause aus kein analytischer Begriff, sondern ein Kampfbegriff“. Davon wird auch Gebrauch gemacht, wenn die Herausgeber argumentieren: „Die Zivilisiertheit einer Gesellschaft lässt sich auch daran erkennen, wie sie Frauen und Homosexuelle behandelt – und da steht die dekadente Gesellschaft vergleichsweise gut da.“ Vergleichsweise bescheuert steht hier jedenfalls das und zwischen Frauen und Homosexuellen.

Bohrers fragwürdigste Parabel zum Schluss: „Es erscheint der Volksschüler auf dem Weg nach Hause. Er hat Angst. Ihm ist gerade von einem kleinen Türkenjungen das Geld abgenommen worden, das ihm die Mutter zum Einkaufen mitgab. Nun hat er Angst, dass sich das bald wiederholen könnte. Ob der Türkenjunge zu stark für ihn war und er den Raub nicht abwehren konnte, weiß er nicht, denn er hat es überhaupt nicht versucht. Er weiß gar nicht, wie er das hätte anstellen sollen, selbst wenn er stärker gewesen wäre als jener.“ Was bedeutet diese Geschichte? Als nachvollziehbar authentischem Vorfall fehlt ihr jedes Vorstellungsvermögen, was es heißt, einmal so richtig abgezogen zu werden. Als Gleichnis vom Radikalpazifismus der Deutschen, den Bohrer eben noch attackiert hatte, macht sie sich aber einer Kategorienverwechslung schuldig und setzt auch seinen mokanten Bericht über die im Frühjahr von der iranischen Marine widerstandslos aufgebrachten britischen Soldaten irreführend fort. Die Selbstverteidigung einer Nation ist eine grundsätzlich andere als die des Individuums. „Wer auf Macht verzichtet, verzichtet auf Politik“, lautet Bohrers Lehre. Welchem juste milieu meint er, dieses „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ eigentlich noch mitteilen zu müssen?

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